Seitdem ein einstürzendes Dach des Bahnhofs in Novi Sad 16 Menschen unter sich begrub, protestieren die Menschen in Serbien, allen voran die Studierenden. ANA JOKIĆ berichtet von dem Versuch, die autoritäre Regierung zur Verantwortung zu ziehen.
Am 1. November 2024 stürzte das Vordach eines Bahnhofs in Novi Sad ein und riss 16 Menschen in den Tod, die auf ihren Zug warteten. Erst vier Monate zuvor hatte Bau- und Infrastrukturminister Goran Vesić den frisch renovierten Bahnhof eröffnet. Es handelte sich um ein Prestigeprojekt, mit dem zwei Jahre zuvor stark um Wähler_innenstimmen geworben wurde. Am Abend der Tragödie log Präsident Aleksandar Vučić; das Vordach sei gar nicht Teil der Renovierungsarbeiten gewesen, und weigerte sich, die Beweise öffentlich zu machen.
Auslöser für die massiven studentischen Proteste war schließlich der Angriff auf Student_innen, die sich am 22. November vor der Fakultät für Dramatische Künste in Belgrad für ein schweigendes Gedenken an die Opfer versammelt hatten. Dabei wurden sie von Mitgliedern der Regierungspartei tätlich angegriffen: Milija Koldžić, Aleksandar Jokić, Dušan Kostić, Milena Aleksić und Ivan Stanišić. Die Polizei griff nicht ein, als die schwarzgekleideten Angreifer versuchten, die Protestierenden von der Straße zu drängen, damit drohten, sie zu überfahren, und sie beschimpften.
Dieser Vorfall löste bei den Studierenden Empörung aus. Was folgte, war die Blockade von sechs staatlichen Universitäten mit klaren Forderungen:
1. Öffentliche Bereitstellung der gesamten Dokumentation über den Wiederaufbau des Bahnhofs von Novi Sad.
2. Behördliche Bestätigung der Identität aller Personen, die im Verdacht stehen, Student_innen und Professor_innen körperlich angegriffen zu haben, sowie Einleitung von Strafverfahren gegen sie. 3. Zurücknahme der Strafanzeigen gegen Student_innen, die bei den Protesten festgenommen und inhaftiert wurden, sowie Einstellung der bereits eingeleiteten Strafverfahren.
4. Erhöhung des Budgets für die Hochschulbildung um 20 %. Nachdem die Polizei am 15. März in Belgrad eine Schallkanone, eine militärische Waffe, gegen friedliche Demonstrant_ innen einsetzte, wurde eine fünfte Forderung hinzugefügt:
5. Ermittlung aller Umstände und Verantwortlichkeiten im Zusammenhang mit dem Phänomen, das am 15. März Angst und Panik auslöste.
Blockaden gegen Korruption
Die Einflussnahme Vučićs und seiner Partei auf die Arbeit der Institutionen zog bereits zahlreiche politische Affären nach sich, darunter der nächtliche Abriss des Stadtteils Savamala für den illegalen Bau der Belgrader „Waterfront“, Partys des Bürgermeisters von Jagodina, Dragan Marković, auf denen es zu Vergewaltigungen minderjähriger Mädchen kam, oder die Plagiate der Doktorarbeiten von Siniša Mali und Branko Ružić. Einige dieser Institutionen wurden nun zum Ziel von Blockaden durch die Protestierenden. 14 Tage lang blockierten Student_innen den öffentlich-rechtlichen Sender RTS. Aufgrund des öffentlichen Drucks stimmte der parlamentarische Ausschuss für Kultur und Information schließlich dafür, ein Auswahlverfahren für neue Mitglieder der Regulierungsbehörde für elektronische Medien einzuführen. Ein wichtiger Sieg, da das landesweite Fernsehen von Personen geleitet wird, die der Regierungspartei nahestehen, und als Instrument der Machtausübung genutzt wird.
Zuletzt hatten Vučić und Gesundheitsminister Zlatibor Lončar gegen das Gesetz verstoßen, als sie am 17. März ohne Schutzausrüstung die Intensivstation des Universitätsklinikums in Belgrad besuchten. Dabei gefährdeten sie nicht nur die Gesundheit der Patient_innen, sondern verletzten auch deren Recht auf Privatsphäre und Würde, da sie den Besuch aufnahmen und für politische Zwecke nutzten. In der Folge wurde die letzte Forderung der Student_innen aufgestellt:
6. Feststellung der Verantwortlichkeiten am Vorfall im Serbischen Universitätsklinikum.
Das Vučić-Regime
Vučić reagiert auf die Proteste in erster Linie damit, seinen Personenkult weiter auszubauen. In den Medien inszeniert er sich als Machtpolitiker, der Ursula von der Leyen dazu bringt, um ein Gespräch mit ihm zu betteln, und der Macron und Putin um den kleinen Finger wickelt. Seine Herrschaft lebt von der Kontrolle bis ins Detail: von der Frage, wer in der Hauptstadt operiert, zu der Frage, wer im Dorf die Bäckerei betreibt – sie alle müssen politisch auf Linie sein.
Auf einer Wand in der Knez Mihailova Straße in Belgrad steht zu lesen, dass der einzige Völkermord in Srebrenica an den Serben begangen worden sei. Es ist unvorstellbar, dass serbische Schüler_innen nach Srebrenica fahren und Kriegsfriedhöfe säubern, um der gemeinsamen Geschichte von Menschen zu gedenken, die dieselbe Sprache sprechen, aber dazu gezwungen wurden, aufeinander zu schießen. Das generationenübergreifende Kriegstrauma wird vertieft und die kaum verheilten Wunden immer wieder aufgerissen.
Verhaftung ohne Legitimation
Zahlreiche Professor_innen, Studierende und Schüler_innen, die sich den Protesten anschlossen, wurden verhaftet. Der jüngste von ihnen war gerade einmal 15 Jahre alt. Die UN-Kinderrechtskonvention, die Serbien unterzeichnet hat, spricht sich eindeutig gegen diese Behandlung von Minderjährigen aus. Polizeikräfte in Zivil, ohne Legitimation und mit schwarzen Masken vermummt, führen diese Verhaftungen durch, was den Verdacht nahelegt, dass es sich nicht um Polizeibeamte, sondern vom Regime als Verstärkung angeheuerte Personen handelt. Sie geben keine Gründe für die Verhaftungen oder Schläge an und verweigern Auskunft über den Aufenthaltsort der Inhaftierten.
Weibliche Studentinnen und Aktivistinnen, die an vorderster Front stehen, werden oft zur Zielscheibe und sind dem frauenfeindlichen Verhalten der Polizei ausgesetzt. In den sozialen Medien sind Videos aufgetaucht, in denen Polizisten abfällig die Körper von Frauen kommentieren. Ohne triftigen Grund festgenommen wurde auch Marija Vasić, eine Gymnasiallehrerin und Aktivistin, die wegen der rechtswidrigen Behandlung von ihr und anderen Aktivist_innen in einen Hunger- und Durststreik trat. Als sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte, musste sie in ein Krankenhaus verlegt werden. Ihre Worte wurden zu einem der Symbole des Protests: „Ich bitte weder um Gnade, noch würde ich sie euch gewähren“.
Am 14. August ereignete sich ein weiterer Vorfall nach einer Demonstration in Belgrad. Nikolina Sindjelic war gerade mit anderen auf dem Weg nach Hause, als sie von der Polizei angehalten und geschlagen wurde. Daraufhin wurde sie von den anderen getrennt, die Beamten konfiszierten ihr Handy und ihre Kamera, bespuckten sie und drohten ihr mit Vergewaltigung. Sindjelic hat Anzeige gegen die Beamten erstattet.
Kampf für Neuwahlen
Die letzten Monate haben die Stimmung der Menschen im ganzen Land verändert, aber noch ist das korrupte System an der Macht. Vučić soll durch zivilen Ungehorsam dazu gebracht werden, Neuwahlen auszurufen. Er hält das nicht für nötig – die Weltausstellung 2027 ist jetzt seine Priorität. Die Blockaden bleiben aufrecht, und mit ihnen die Vision einer Gesellschaft ohne Kriegerdenkmäler, gekaufte Diplome und einstürzende Dächer.
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Ana Jokić ist Studentin der Sonderpädagogik und Rehabilitation an der Universität Belgrad. Derzeit schreibt und redigiert sie für die Studierendenzeitung Skica sowie für das Fasper Journal, Lokalzeitung der Fakultät für Sonderpädagogik und Rehabilitation. Sie hat mehrere Artikel für das Online-Nachrichtenportal Nova geschrieben.