„Ich sage ihnen, dass sie eine Zukunft vor sich haben“

Ein Artikel von:
Bernadette Schönangerer

Die Regierung, die sie eingesetzt hat, gibt es nicht mehr. Die Taliban haben MANIZHA BAKHTARI formal entlassen. Trotzdem ist sie weiterhin die Botschafterin Afghanistans in Österreich. Sie setzt sich für Frauenrechte ein und dafür, dass Gender Apartheid im internationalen Strafrecht verankert wird.
Interview: BERNADETTE SCHÖNANGERER

Sie wurden von der letzten gewählten Regierung eingesetzt, die 2021 von den Taliban gestürzt wurde. Die Taliban haben Sie formal entlassen. Wen vertreten Sie, und wie können Sie Ihr Amt weiter ausführen?

Die Taliban haben gewaltsam die Macht übernommen. Als die Regierung am 15. August 2021 zusammenbrach, befanden wir uns im Ungewissen. Die Regierung, die mich ernannt hatte, existierte nicht mehr. Was sollten wir tun? Bleiben oder gehen? In Absprache mit unseren Kolleg_innen hier in Wien und anderen afghanischen Diplomaten weltweit beschlossen wir, zu bleiben und weiterhin das Volk und den Staat Afghanistan zu vertreten. Ich bin weiterhin die Botschafterin Afghanistans. Mein Mandat ist vor den österreichischen Behörden sowie vor den Vereinten Nationen und anderen internationalen Organisationen gültig. Es ist nicht einfach, da ich nicht mehr das gleiche Gewicht als Diplomatin habe. Aber ich habe mein Amt als Drehscheibe für Demokratie, Menschenrechte und Frauenrechte umgestaltet und begonnen, mich für Millionen von Mädchen und Frauen in Afghanistan einzusetzen, die unter dem unterdrückerischen Regime der Taliban leben.

Wie ist die Situation für Frauen und Mädchen in Afghanistan aktuell?

Die repressive Politik der Taliban gegenüber Frauen kommt einer Verfolgung aufgrund des Geschlechts und Gender Apartheid gleich. Das System, das sie Frauen und Mädchen auferlegt haben, ist bewusst darauf ausgerichtet, Frauen aus dem öffentlichen Leben zu verbannen. Unsere Mädchen dürfen nur noch bis zur sechsten Klasse die Schule besuchen. Als ich Professorin an der Universität Kabul war, habe ich zusammen mit meinen Kolleginnen meine Forschungsergebnisse veröffentlicht. Heute sind all unsere Lehrbücher verboten.

Die Taliban haben mehr als 200 Dekrete erlassen, die sich ausschließlich auf Einschränkungen von Frauen beziehen, auf ihre Kleider, ihr Verhalten, ihre Bewegungsfreiheit, ihre Bildung, ihre Entscheidungen. Es handelt sich um ein bewusstes System der Auslöschung von Frauen. Man sieht keine Frauen mehr in der Politik oder im öffentlichen Leben. Es gibt einen kleinen Teil von Frauen, die noch im Gesundheits- und Sicherheitssektor sowie im Bildungswesen arbeiten können. Wir haben Ärztinnen und Krankenschwestern, aber ihre Zahl ist begrenzt. Viele Ärztinnen haben Afghanistan verlassen. Ich glaube, unser Gesundheitssystem könnte sehr bald zusammenbrechen.

Es gibt Bemühungen, Mädchen in geheimen Schulen und mit Unterstützung aus dem Ausland online zu unterrichten. Ein Beispiel dafür ist Ihr „Daughters Program“. Können Sie mir mehr über diese Initiative erzählen?

Es gibt Online-Schulen, die diejenigen besuchen können, die sich diese leisten können, und einige wenige Untergrundschulen. Die Schülerinnen riskieren ihr Leben, um diese Schulen zu besuchen, da die Taliban jederzeit davon erfahren und den Ort überfallen könnten. Natürlich ist es nicht möglich, Millionen von Mädchen online zu unterrichten. Meine Initiative ist ebenfalls sehr klein, wir unterstützen derzeit ein paar hundert Mädchen. 2022 entstand das „Daughters Program“.

Die Idee ist ganz einfach: Eine Frau im Ausland unterstützt ein Mädchen in Afghanistan. Ich selbst unterstütze drei Mädchen. Ich unterhalte mich mit ihnen über Bücher, Kunst, ihr Leben und darüber, was sie brauchen. Ich versuche, ihnen Motivation und Hoffnung zu geben. Ich sage ihnen, dass ihr Leben nicht vorbei ist, dass sie eine Zukunft vor sich haben. Und ich ermutige auch andere Frauen, eine Patenschaft für ein Mädchen in Afghanistan zu übernehmen.

Bevor die Taliban die Macht übernahmen, arbeiteten Frauen – wie Sie selbst – in den Medien, im Bildungswesen und in der Verwaltung. Sie selbst spielen nun in der Opposition im Exil eine wichtige Rolle. Wie organisieren sich die internationalen Netzwerke, und auf welche Forderungen konzentrieren Sie sich?

Wir haben gebildete und prominente Frauen im Exil. Viele von ihnen waren nach der Machtübernahme durch die Taliban gezwungen, Afghanistan zu verlassen. Sie leben nun verstreut auf der ganzen Welt. Wir haben ein starkes Netzwerk aufgebaut und jede nutzt ihre Plattform. In den letzten vier Jahren habe ich gesehen, wie unsere Frauen in Parlamente und zu Regierungen gegangen sind, Treffen und Gespräche mit prominenten Führungskräften geführt haben. Dank unserer mutigen Frauen ist es uns gelungen, die internationale Gemeinschaft davon zu überzeugen, die Taliban nicht als legitime Regierung anzuerkennen. Ich sehe darin das Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit. Wir sagen, das ist eine bewaffnete, terroristische Gruppe, die Afghanistan mit Gewalt erobert hat, nicht durch Wahlen und nicht durch den Willen des Volkes. Sie respektieren die Menschenrechte nicht. Es geht nicht nur um Frauen, sie verletzen auch die Rechte von Männern und Jungen. Sie haben ein unterdrückerisches System aufgebaut, während sie sich als moderate Generation der Taliban darstellen.

Ich sehe Touristen und YouTuber, die nach Afghanistan reisen und die Sicherheit im Land loben. Sie besuchen abgelegene Gebiete und Dörfer, machen Selfies mit Einheimischen und sogar mit den Taliban. Sie sind wie die Propagandamaschine der Taliban. Aber können Frauen das auch tun? Einfach frei im Land herumlaufen? Nein, denn sie brauchen einen männlichen Begleiter, und sie müssen sich verhüllen. Und wenn die Taliban finden, dass ein Mädchen keinen angemessenen Hidschab trägt, dann bringen sie dieses Mädchen ins Gefängnis und bestrafen ihre Familie.

2020 schloss die US-Regierung ein Friedensabkommen mit den Taliban. Wie haben Sie diese Zeit als Diplomatin erlebt?

In den 20 Jahren Demokratie haben wir gemeinsam mit unseren Verbündeten und der internationalen Gemeinschaft unsere Institutionen neu aufgebaut, nachdem sie während des Krieges und in der ersten Phase der Taliban-Herrschaft zerstört worden waren. Frauen waren in staatlichen Institutionen und Nichtregierungsorganisationen vertreten. Die internationale Gemeinschaft hat 20 Jahre für uns gekämpft, dafür sind wir dankbar. Doch 20 Jahre in Afghanistan zu kämpfen, Menschenleben und Millionen an Dollar zu verlieren hat zu Ermüdung geführt. Dann unterzeichneten die USA ein Friedensabkommen mit den Taliban, ohne die Vertreter unseres Volkes und ohne unsere gewählte Regierung. Sie waren nicht mit am Tisch. Als Diplomatin und als Frau war ich enttäuscht. Die USA waren in Afghanistan, um den Terrorismus und illegalen Drogenhandel zu bekämpfen. All das gibt es immer noch. Sie waren in Afghanistan, um einen Staat aufzubauen, Demokratie, Frauenrechte und ein System ohne Unterdrückung zu etablieren. Wo sind nun die Frauenrechte? Sie haben den Taliban alles überlassen und sind gegangen. Ich glaube, dieses Friedensabkommen war ein wichtiger Schritt für die Taliban, um Afghanistan zu übernehmen. Es hat die Autorität der Regierung untergraben.

Sie haben zuvor von Gender Apartheid gesprochen. Inwiefern ist dieser Begriff nützlich?

Ich glaube, dass Sprache wichtig ist. Wir brauchen eine Definition für die Situation in Afghanistan, denn es handelt sich nicht nur um vereinzelte Fälle von Diskriminierung, sondern um ein System, das auf Segregation und Unterdrückung aufgebaut ist. Abdelfattah Amor, UN-Sonderberichterstatter für Religions- oder Glaubensfreiheit während der ersten Phase der Taliban-Herrschaft in den 1990er Jahren, verwendete als einer der Ersten diesen Begriff, um die Situation in Afghanistan zu beschreiben.

Es gibt eine Konvention zur Bekämpfung der rassistischen Apartheid in Südafrika. Wenn man darin „race“ durch „gender“ ersetzt, stellt man fest, dass genau das in Afghanistan geschieht. Derzeit arbeitet eine Gruppe von Jurist_innen und Expert_innen daran, diesen Begriff zu kodifizieren und auf UN-Ebene im internationalen Strafrecht zu verankern. Ich bin Teil dieser Kampagne. Wir haben Unterstützer_innen in der UN, und es gibt auch viele Diplomat_innen, die mit uns zusammenarbeiten.

Foto: Golden Girls Film
Manizha Bakhtari im Film „Die letzte Botschafterin“ von Natalie Halla (2025). Der Film ist derzeit noch in den österreichischen Kinos zu sehen. Foto: Golden Girls Film

Was bedeutet für Sie feministische Außenpolitik, und was sollten deren Grundprinzipien sein?

Ich schätze diese Politik sehr. Aber ich denke, wenn man eine feministische Außenpolitik verfolgt, sollte man alle Aspekte berücksichtigen und eine grundsätzliche Haltung einnehmen. In Deutschland gibt es feministische Außenpolitik. Trotzdem haben sie Diplomaten der Taliban empfangen. Wenn man von einer so umfassenden Außenpolitik spricht, sollte man sich nicht mit einer De-facto-Regierung einlassen, die Frauen in ihrem Land unterdrückt. Das ist ein Widerspruch.

Wie können wir Ihre Arbeit für die Rechte der Frauen in Afghanistan unterstützen?

Die Menschen können mir helfen, indem sie über Afghanistan sprechen, indem sie Afghanistan wieder auf die Tagesordnung setzen, indem sie über die Bedeutung der Frauenrechte und den Beitrag der Frauen zur Gesellschaft diskutieren. Generell möchte ich natürlich, dass Österreich die Taliban nicht anerkennt und keine politischen Beziehungen zu ihnen unterhält. Wir bitten um Solidarität. Wir führen den Kampf, aber wir möchten, dass andere uns unterstützen und unseren friedlichen Widerstand gegen die Taliban anerkennen.

Was sollten die Menschen über Afghanistan wissen, so wie Sie es erlebt und bevor die Taliban die Macht übernommen haben?

In den 1960er Jahren war Afghanistan eine der Touristenattraktionen in Asien. Ich wünsche mir dieses Afghanistan zurück. Seit 20 bis 25 Jahren wird Afghanistan mit Terrorismus, Armut und Menschenrechtsverletzungen in Verbindung gebracht. Aber es gab auch ein anderes Afghanistan, ein Land, das sich durch Menschenrechte, Demokratie, Kunst, Kultur und Poesie auszeichnete. Wir haben eine so reiche Geschichte. Unser Volk möchte einfach nur glücklich sein und ein normales Leben führen. Ich lade alle ein, unsere Widerstandsfähigkeit zu sehen, nicht nur unser Leid. Zu sehen, dass wir die Hoffnung nicht verlieren und weitermachen und kämpfen, auch wenn es nicht für unsere Generation ist.

Ich glaube, dass Gerechtigkeit und Frieden keine dauerhaften Errungenschaften sind, sondern ständig erneuert und verteidigt werden müssen. Wir kämpfen für die Rechte der Frauen. Nicht nur für uns, sondern für alle Frauen auf der ganzen Welt.

Manizha Bakthari ist Botschafterin Afghanistans in Österreich. Als Diplomatin, Schriftstellerin und ehemalige Professorin an der Universität Kabul setzt sich Bakhtari seit langem für Demokratie, Menschenrechte und die Stärkung der Rolle der Frau ein. Vor ihrer diplomatischen Karriere war sie Stabschefin des afghanischen Außenministers und Beraterin für Kultur- und Medienangelegenheiten. Sie ist Gründerin des „Daughters Program“. Mehr Informationen dazu gibt es hier.