„Dem Kapitalismus bleibt kein Land mehr, um es zu kultivieren, als das Selbst“, schreibt die Essayistin Jia Toledo. Auch unsere Autor_innen beschreiben eindringlich, wie profitorientierte digitale Infrastrukturen im globalen Süden Menschen dazu zwingt, sich einem System zu ergeben, das sie diskriminiert und marginalisiert – insofern sie überhaupt Zugang dazu haben. Denn zwei Milliarden Frauen im globalen Süden sind von der sogenannten digitalen Revolution ausgeschlossen. Während sich Menschen im globalen Norden Gedanken über 5G und hocheffiziente technologische Neuerungen machen, haben 70 % der Bevölkerung in Afrika und die Hälfte der Frauen weltweit keinen Zugang zum Internet.
Zu Beginn war das Internet der Hoffnungsfunke, der uns weltweit in befreite, gleichberechtigte Gesellschaften manövrieren sollte. Heute ist das Internet durchdrungen von der kapitalistischen Marktlogik, die unsere Aufmerksamkeit ausbeutet und unser Selbst digital zu Geld macht. Doch auch wenn man das Internet meidet, ist es kaum mehr möglich, unbehelligt von jeglicher Digitalisierung zu leben. Längst beeinflussen Technologie-Konzerne unseren Alltag von uns unbemerkt und unbewusst. Unsere Autor_innen sind diesen Entwicklungen und Zuständen der Digitalisierung nachgegangen. Giselle Ferreira beleuchtet den digitalen Kolonialismus anhand des brasilianischen Schulsystems, dessen Digitalisierung hauptsächlich von US-amerikanischen Konzernen, die einer kolonialistischen Logik im Digitalen folgen, vorangetrieben wird. Astrud Beringer und Debora Lima beschreiben, wie Digitalisierung Landraub in Ländern des globalen Südens verschlimmert, statt Kleinbäuer_innen zu ihrem Recht zu verhelfen. Matilde Rada berichtet aus Bolivien von der intransparenten Industrialisierung des Lithium-Abbaus in einem der ärmsten Regionen des Landes und wie dieser das dortige Leben bedroht, statt es zu bereichern.
Brinda Lakshmi erklärt, wie in Südasien trans Menschen pathologisiert und durch digitale staatliche Strukturen diskriminiert werden, was dazu führt, dass fehlerhafte digitale Daten ihre Ansprüche auf Bezüge beschneiden. Der digitale Raum ist ein umkämpfter Raum. Das wird besonders sichtbar, wo analoge soziale Ungleichheiten im Digitalen weitergeführt werden und es darum geht, feministische Kämpfe auch dort auszutragen. Nela Perle führte ein Interview mit Stella Nyanzi, ugandische Feministin und Regimekritikerin, die aufgrund ihrer Facebook-Posts ins Gefängnis musste. Marwa Azelmat von der Association of Progressive Communications erzählt im Interview von der Gewalt, die mit Hilfe von Algorithmen Vorurteile und Hierarchien reproduziert, gegen die Feminist_innen schon lange ankämpfen, aber ebenso von der Möglichkeit eines feministischen Internets und digitalen Räumen, die die Umsetzung von Frauen*rechten, die Mitgestaltung, das Partizipieren und die Wissensweitergabe rund um Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) zum Ziel haben.
Was bedeutet die Digitalisierung für Menschen im globalen Süden, insbesondere für Frauen und LGBTIQ*-Personen, abseits der Technophoria? Welche Perspektiven haben Feminist_innen auf die weltweite Entwicklung, und was ist zu tun, um das anfängliche Versprechen eines freien, offenen Internets für alle zu verwirklichen? Das sind nur einige Fragen, die in dieser Ausgabe gestellt werden.
Inhalt
Digitale Technologien in Brasilien. Metaphern, nach denen wir leben, auf die wir aber lieber verzichten würden. Giselle Martins dos Santos Ferreira
Digitalize it! Neue Werkzeuge für Landraub. Astrud Lea Beringer und Debora Lima
An Unpromising Reality. Lithium in Bolivia. Matilde Rada
Jenseits der Binarität. Geschlechtsspezifische datenbasierte Ausgrenzung in Südasien. Brindaalkshmi.K
Pionierinnen der Technologie. Frauen*, die unser Leben veränderten. Redaktion
„Codes müssen nicht profitorientiert sein“. Der Kampf um ein feministisches Internet ist nicht vorbei. Interview mit Marwa Azelmat
Coded Bias. Wie Algorithmen Ungleichheiten verstärken. Bianca Jasmina Rauch
Immaterielle Körper. Welchen Einfluss haben soziale Medien auf unsere Gesellschaft? Jenny Olaya-Peickner
Myanmars Heldinnen. Die Protestbewegung gegen den Militärputsch. Interview mit Nyein Chan May
„Nur wenn wir schreien, hören sie uns“. Gefahren für Frauen und Oppositionelle in Uganda. Interview mit Stella Nyanzi
Dis/Connections. Von der prä- zur postdigitalen Welt. Andreea Zelinka
We are not just flowers on the table. Die Rolle der Frauen im syrischen Verfassungskomitee. Amina El-Gamal und Vanessa Barisch
Rechtspopulist_innen vs. Feminist_innen. Über den Zusammenhang von Rechtspopulismus und Gender. Elisa Fink