Die israelischen Medien machen ihren Job nicht, meint ANAT SARAGUSTI von der israelischen Journalist_innengewerkschaft. Sie ergreifen aktiv Partei im Krieg, indem sie nicht über die humanitäre Lage im Gazastreifen berichten. Das ist auch Ergebnis einer Einschüchterungskampagne durch Premier Benjamin Netanjahu.
Am 17. Juli wurde der Chatverlauf einer WhatsApp-Gruppe von leitenden Redakteur_innen und Reporter_innen des israelischen Senders Kanal 12 geleakt. Darin wurde diskutiert, ob die meistgesehene Nachrichtensendung des Landes die Lage in Gaza ignorieren sollte oder ob es ihre Pflicht sei, über die humanitäre Lage dort zu berichten. Israel ist ein kleines Land mit drei Fernsehsendern, einem öffentlichen und zwei privaten. Außerdem gibt es zwei Kabelnachrichtensender, eine Handvoll Zeitungen und mehrere Internet- Nachrichtenseiten. Die meisten Redakteur_innen hielten es leider für richtig, nicht zu berichten.
Breaking News am laufenden Band
Für ein nicht-israelisches Publikum mag es schwierig sein, die Realität in Israel seit dem 7. Oktober 2023 zu verstehen. An diesem Tag drangen mehr als 3.000 Hamas-Kämpfer aus Gaza in Israel ein und verübten ein Massaker. Mehr als 1.200 Menschen, überwiegend Zivilist_innen, wurden ermordet, darunter Frauen, ältere Menschen, Kinder und Babys. Sowohl Frauen als auch Männer wurden sexuell missbraucht. 251 Menschen wurden nach Gaza verschleppt, darunter Babys, Kinder, Frauen und ältere Erwachsene. Ende Juli 2025 befanden sich noch immer 50 Personen unter sehr schlechten Bedingungen in Gaza in Gefangenschaft, von denen 20 vermutlich noch am Leben sind.
Nach dem Angriff begann Israel den längsten und tödlichsten Krieg seiner Geschichte: Hunderte israelische Soldat_innen wurden im Kampf getötet. Zehntausende Palästinenser_innen, überwiegend Zivilist_innen, wurden ebenfalls getötet, darunter fast 18.000 Kinder. Die Zerstörung in Gaza ist immens.
Seit dem 7. Oktober 2023 senden alle Fernsehsender ununterbrochen Breaking News. In den Studios erklären ehemalige Generäle die Lage, während weibliche Expertinnen kaum zu sehen sind. Nur wenige Mainstream-Medien thematisieren die humanitäre Krise in Gaza. Die meisten berichten ausschließlich aus israelischer Sicht. Eine Ausnahme ist die Zeitung Haaretz, die von Beginn an täglich über die realen Geschehnisse in Gaza berichtet.
Keine Fragen stellen
Seit Beginn des Krieges ist der gesamte Gazastreifen vollständig abgeriegelt. Die israelische Armee kontrolliert alle See-, Luft- und Landzugänge nach Gaza. Journalist_innen können nur unter der Obhut der israelischen Streitkräfte (IDF) einreisen. Die Pressestelle der IDF entscheidet, wer wann für wie lange einreisen darf, wer interviewt wird und was fotografiert werden darf. Das aufgezeichnete Material muss von der Pressestelle abgesegnet werden und unterliegt der militärischen Zensur. Nur die größten internationalen Nachrichtenagenturen und Medien erhalten Zugang, und zwar ausschließlich über die IDF.
Die meisten Berichte auf Hebräisch feiern die Soldat_innen. Sie beschreiben kritiklos die siegreichen Aktionen der IDF und verwenden eine Sprache, die verschleiert, was sich vor Ort abspielt. Sie stellen kaum Fragen zur unbeschreiblichen humanitären Krise in Gaza oder warum es notwendig sei, den Krieg fortzusetzen.
Diese Art von Beziehung zwischen den Medien und den IDF ist in Israel nichts Neues. Fast alle Kriege und Militäroperationen, an denen Israel beteiligt war, wurden unter derselben Politik der Geheimhaltung und Zensur geführt. Allerdings waren diese deutlich kürzer, und ausländische Pressevertreter_ innen konnten unabhängig Informationen sammeln, ohne die Genehmigung der IDF einholen zu müssen.
Eigener Schmerz
Die israelische Bevölkerung hat Zugang zu vielen Informationsquellen, auch auf Hebräisch (z. B. die Zeitung Haaretz), um zu erfahren, was in Gaza vor sich geht; ebenso über die sozialen Medien und die Berichterstattung internationaler Medien. Doch die meisten Menschen in Israel wollen nicht hinsehen. Viele sind stark mit ihrer eigenen Trauer und ihrem Schmerz beschäftigt, anderen ist es egal, und wieder andere glauben, dass es in Gaza keine unschuldigen Menschen gibt und sie alle den Tod verdienen.
Darüber hinaus ist Israel ein kleines Land, und viele Israelis kennen Menschen, die am 7. Oktober 2023 ermordet wurden. Sie leben in den Gemeinden, die an diesem Tag von der Hamas überfallen, oder kennen Soldat_innen, die im Kampf getötet wurden. Viele wurden vom Militär zum Reservedienst einberufen und haben am Krieg teilgenommen. Dieser Krieg findet nicht in einem fernen Land, sondern im Hier und Jetzt statt.
Die andere Seite
In früheren Kriegen berichteten die Mainstream-Medien ab einem bestimmten Punkt auch über die andere Seite. Diesmal ist das nicht geschehen. Obwohl die internationale Gemeinschaft entsetzt ist – schockierende Aufnahmen von Leichen, die aus den Trümmern geborgen werden, von Kindern, die in langen Schlangen auf Essen warten, und von weitverbreiteter Hungersnot –, berichten die meisten weiterhin nur über die israelische Seite.
Zum Teil kann das mit der massiven Einflussnahme der Regierung erklärt werden. Unter Premier Netanjahu verabschiedete sie eine Flut von Gesetzen, die sich gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die wirtschaftliche Basis kommerzieller Fernsehsender richten, um die freie Presse in Israel zu schwächen. Gleichzeitig gewährt die Regierung nur jenen Fernsehsendern finanzielle Unterstützung, die ihr ideologisch nahestehen, und verhängte sogar Sanktionen gegen jene, die ihre Politik kritisieren, wie bei der Zeitung Haaretz.
Teil dieser Strategie ist auch eine gezielte Verleumdungskampagne in den sozialen Medien. Sie schürt Misstrauen gegenüber den Medien und schüchtert Journalist_innen ein. Netanjahu selbst verspottet online einzelne Journalist_innen, unterstellt ihnen Lügen und bezeichnet Fernsehsender als „toxisch“, um anzudeuten, dass sie unglaubwürdig sind.
Das ganze Bild
Journalist_innen, die unter Druck gesetzt werden, können ihre Arbeit nicht frei und unabhängig ausüben. Indem sie dem israelischen Publikum das ganze Bild des Krieges vorenthalten, fördern sie bei vielen die Annahme, dass Kritik an Israel eher auf Antisemitismus zurückgehe, als dass sie eine legitime Haltung gegenüber der Politik der israelischen Regierung sei. Indem sie wichtige Informationen zurückhalten, ergreifen die Medien in Israel aktiv Partei in diesem Krieg. Sie machen ihren Job nicht – sie informieren die Öffentlichkeit nicht, und sie kommen ihrer Kontrollfunktion nicht nach.
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Anat Saragusti ist bei der Journalist_innengewerkschaft in Israel für Pressefreiheit zuständig. Sie ist Juristin, Dokumentarfilmerin und freiberufliche Journalistin. Sie schreibt Gastkommentare und führt Podiumsdiskussionen zu Pressefreiheit, Gleichstellung von Frauen und dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Sie war Korrespondentin für den israelischen Fernsehsender Kanal 12 in Gaza.