Artikelbild

Der Traum nach Veränderung in Scherben

Ein Artikel von:
Agnes Sieben

Auf der Suche nach Gründen für die Ablehnung des progressiven Verfassungsentwurfs in Chile

Seit der sozialen Revolte 2019 wird in Chile über eine neue Verfassung verhandelt. Diese hätte nicht nur endgültig mit der alten Verfassung aus den Zeiten der Diktatur gebrochen, sondern auch grundlegende Rechte für FLINTA* gebracht. Der erste Anlauf scheiterte im Herbst 2022. Damit scheint der Traum vieler Feminist_innen, ihre Forderungen als neues Gesellschaftsmodell gesetzlich zu verankern, zerbrochen. Doch warum hat der Entwurf für die neue Verfassung keine Mehrheit gefunden?

Die rechte Militärdiktatur unter Augusto Pinochet in Chile liegt bereits über 30 Jahre zurück. Doch ihr Erbe ist immer noch in der Verfassung verankert. Die Wut über die dort festgeschriebene neoliberale Ordnung und die damit verbundene soziale Ungleichheit löste im Oktober 2019 eine Revolte aus. Diese begann als Protest auf eine Erhöhung der Fahrpreise des öffentlichen Nahverkehrs in Santiago und brachte ein weitverbreitetes Gefühl entwürdigender Lebensbedingungen zum Ausdruck.

Die überraschende Kraft des landesweiten Aufstandes zwang die Regierenden, den Prozess für eine neue Verfassung einzuleiten. In einem Referendum 2020 sprachen sich daraufhin fast 80 % der Bevölkerung für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung durch einen Verfassungskonvent aus, also für ein Gremium mit direkt vom Volk gewählten Delegierten.

Feministische Handschrift im Verfassungsentwurf

Auf dem Weg zum Verfassungsentwurf waren feministische Mobilisierungen oft die treibende Kraft und beeinflussten so das politische Geschehen nachhaltig. So wurde beispielsweise der Verfassungskonvent aufgrund dieses Drucks geschlechterparitätisch besetzt. Ein weiterer Erfolg war die Wahl vieler Feministinnen in den Konvent, was dazu führte, dass das Ergebnis des Gesetzestextes hinsichtlich feministischer Themen als sehr progressiv galt. Unter anderem wurden Femizide als Gewalttat benannt, Abtreibungen sollten legalisiert werden, und unbezahlte Care-Arbeit sollte als wirtschaftliche Tätigkeit anerkannt werden.

Die feministische Radiomacherin und Umweltaktivistin Melanie Collins Urzúa empfand diese Erfolge als wichtige Meilensteine. Sie erlebte den Verfassungsprozess aus nächster Nähe, denn als Mitglied des Movimiento por el Agua y los Territorios (MAT), eines chilenischen Umweltbündnisses, konnte sie mit den Delegierten des Verfassungskonvents, die der MAT angehörten, über die Entscheidungen diskutieren. Trotz vieler Zweifel aufgrund unzureichender Veränderungen, vor allem im Hinblick auf die kapitalistische Ordnung, bestand die Hoffnung, durch die Umsetzung einiger Forderungen in ersten Schritten etwas im Land zu verändern.

Das Ausbremsen der gesellschaftlichen Kräfte

Im September 2022 wurde der Entwurf von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Von außen betrachtet erscheint das Ergebnis wie ein abruptes Ende eines Traums. Doch die Hoffnungen auf einen Wandel wurden schon während des Prozesses von vielen Zweifeln überschattet. Melanie zufolge lief der Prozess von Anfang an schief, und das war einer der Gründe dafür, dass sich der Großteil der Bevölkerung nicht in den Inhalten der Verfassung wiederfand.

Die Grundsteine für die neue Verfassung wurden während der Proteste 2019 in basisorganisierten Versammlungen in den Nachbarschaften gelegt. Doch das sogenannte Friedensabkommen – eine Vereinbarung, auf die sich die damalige rechtskonservative Regierung unter Sebastián Piñera und das Parlament 2019 geeinigt hatten, um die gewaltsame Situation zu entschärfen – institutionalisierte die Forderungen der sozialen Bewegung. Denn das Abkommen erklärte nach Ansicht der Parlamentarier_innen durch die Ankündigung des Verfassungsprozesses die Proteste für beendet.

Spätestens nach der Wahl des linken Präsidenten Gabriel Boric im März 2022 wurde darüber hinaus der Eindruck erweckt, die soziale Bewegung habe nun die Regierungsmacht. Doch in der Regierung konnte sie die Forderungen der Bewegung bis heute in ihrer Radikalität niemals umsetzen.

Die tiefen Kerben neoliberalen Denkens

Die Bevölkerung wurde erst wieder einbezogen, als der 388 Artikel umfassende Verfassungstext fertig war. Nun sollten alle Wahlberechtigten in wenigen Wochen diesen komplexen Text lesen und konnten nur noch dafür oder dagegen stimmen. Die Kommunikation mit der Bevölkerung über den Inhalt der Verfassung litt unter dem Zeitdruck. Anstatt Bezüge zu den Themen herzustellen, die viele Menschen 2019 auf die Straße trieben, oder die Inhalte differenziert zu diskutieren, setzten viele Medien stark auf Einzelkritik an den Delegierten. Dabei wurden Ängste über Dinge geschürt, die in dem Verfassungsentwurf gar nicht vorgesehen waren.

Verstärkt durch die Pandemie und wirtschaftliche Unsicherheiten, wurde mithilfe eines Gespenstes des Kommunismus eine sachliche Diskussion über die Vorschläge linkspolitischer Akteur_innen verhindert und Angst vor materiellen Verlusten geschürt. Dabei ändere der Besitz eines Smartphones nicht den Mangel an grundlegendsten Dingen, wie guter Bildung, kostenloser Gesundheitsversorgung und dem öffentlichen Zugang zu Wasser, so Melanie. Die Vorstellung von Privilegien ist nach Jahren eines „neoliberalen Gesellschaftsmodells“ verzerrt, sagt sie.

Den Scherbenhaufen zusammenkehren

Eine andere, aber tiefsitzende Angst in Teilen der chilenischen Gesellschaft lässt sich aus den Worten Melanies heraushören, wenn sie ihre Beobachtung eines diskursiven Rechtsrucks teilt: Die gesellschaftliche Erinnerung an das Ende eines linken Traums durch den Militärputsch von 1973 hat eine Verschiebung des gesellschaftlichen Diskurses nach rechts ermöglicht. Dies zeigt sich auch in der wachsenden Herausforderung, Feminismus weiterhin in der Gesellschaft zu etablieren.

Wie wird der weitere Verfassungsprozess verlaufen? Nachdem das rechte Parteibündnis Chile Vamos, das in beiden Kammern des chilenischen Kongresses über eine Mehrheit verfügt, die Durchführung eines neuen Anlaufs monatelang blockierte, einigten sich die politischen Kräfte Ende Dezember auf einen neuen Prozess. Viele der Forderungen der rechten Opposition, den Prozess thematisch und institutionell einzuschränken, wurden schließlich erfüllt. Eine Expert_innenkommission aus Kongressvertreter_innen soll einen ersten Entwurf vorlegen, der dann von einer gewählten verfassungsgebenden Versammlung überarbeitet werden soll.

Allerdings müssen bei dieser Wahl parteilose Kandidat_innen von den Parteien nominiert werden und können nicht mehr direkt gewählt werden, was den Einzug von (feministischen) Aktivist_innen in die Versammlung erschwert. So lässt dieses sehr parteiendominierte Verfahren noch weniger Raum für die Mitsprache von basisorganisierten Gruppen.

Es ist schwer zu akzeptieren, dass viele der Forderungen der Demonstrant_innen auf dem Weg zu einer neuen Verfassung verlorengehen werden und dass die Verfassung möglicherweise nicht die grundlegenden Veränderungen bringt, für die die Menschen und vor allem die FLINTA*, auf der Straße gekämpft haben. 

Um den Mut zur Veränderung nicht zu verlieren, versucht Melanie die Scherben einer auseinanderfallenden Gesellschaft aufzusammeln und sich wieder auf das Engagement in ihrem nahen Umfeld zu konzentrieren. Sie betont, wie wichtig es derzeit ist, das Vertrauen untereinander wieder aufzubauen und sich gegenseitig durch Nachbarschaftshilfe und Bildungsarbeit zu unterstützen.

Hörtipp: Das Interview mit Melanie Collins Urzúa wurde im Rahmen der Globalen Dialoge der Women on Air im Oktober 2022 auf Radio Orange 94.0 ausgestrahlt und ist nachzuhören unter: https://noso.at/?p=7260

Zur Autorin: Agnes Sieben studiert Internationale Entwicklung in Wien. Nebenbei schreibt sie für die Onlineredaktion von Amerika21 und ist Radiomacherin bei den Women On Air. In Chile hat sie mehrere Monate gelebt und studiert.

Weitere Artikel aus dem Thema