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Die älteste Kolonie sind die Frauen

Ein Artikel von:
Rosa Burç
Andreea Zelinka

Der antikoloniale Kampf der kurdischen Befreiungsbewegung

Interview mit Rosa Burç

Kurd_innen eint die gemeinsame Unterdrückungserfahrung und der antikoloniale Kampf dagegen. Darin spielt die Befreiung vom Patriarchat eine zentrale Rolle, wie der international bekannt gewordene Ausruf „Jin, Jiyan, Azadî! / Frauen, Leben, Freiheit!“ beweist. Ein Gespräch mit der politischen Soziologin Rosa Burç über Widerstand, feministische Allianzen und soziale Revolution.

Warum ist Kurdistan eine Kolonie und die kurdische Befreiung ein antikolonialer Kampf?

Rosa Burç (RB): Das traditionelle Kurdistan wurde Anfang des letzten Jahrhunderts auf vier neue Nationalstaaten aufgeteilt. So sind Kurd_innen zu Minderheiten in der Türkei, im Iran, im Irak und in Syrien geworden und ihre Existenz zu einer Menschenrechtsfrage. Das verschleiert den kolonialen Zustand, unter dem mehr als 40 Mio. Kurd_innen leben. Kurdisches Leben liegt oft auf dem Verhandlungstisch mit den sogenannten Unterdrückerstaaten. Daher bewahrheitet sich bis heute die alte These, dass Kurdistan eine internationale Kolonie ist. Der antikoloniale Widerstand hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. In den 1970er-Jahren ist die marxistisch-leninistische Partei PKK entstanden, weil man ein freies Kurdistan als unabhängigen Staat errichten wollte. Dann erkannte die kurdische Bewegung, dass der antikoloniale Widerstand in verschiedenen Dimensionen stattfinden muss. Daher richtete er sich gegen die Unterdrückungssysteme, die nicht nur von Nationalstaaten ausgehen, sondern von einem kapitalistischen und patriarchalen System.

Die Befreiung der Frau spielt in diesem Kampf eine zentrale Rolle. Wieso?

RB: Anfang der 1990er-Jahre hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden. Konzepte von Freiheit und Unfreiheit wurden neu gedacht. Freiheit wurde nicht mehr im Nationalstaat gesehen, sondern in einer freien Gesellschaft. Damals haben Frauen im bewaffneten Widerstand eine sehr wichtige Rolle eingenommen, und trotzdem gab es eine genderspezifische Rollenverteilung. So haben Kämpferinnen z. B. Brot gebacken. Sie waren Genossinnen und gleichzeitig für die feminisierte Arbeit zuständig. Schließlich haben sie dagegen rebelliert.

Das war auch möglich, weil der Gründer der PKK, Abdullah Öcalan, viel zur Rolle der Frau geschrieben hat. Er bezeichnete sie als erste und somit älteste Kolonie. Daraus folgte die Frage: Kann ein unabhängiges Kurdistan wirklich frei sein, wenn die kurdischen Frauen in den patriarchalen Strukturen weiter unfrei sind? Nein! Wenn die Frauen die älteste Kolonie sind, dann muss der antikoloniale Kampf auch dort ansetzen.

Die kurdische Befreiungsbewegung versucht den demokratischen Konföderalismus1 aufzubauen. Welche organisatorischen Prinzipien gibt es? 

RB: Das Grundprinzip ist der Versuch, sich in der kleinsten Einheit der Gesellschaft zu organisieren, Räte zu bilden und sich in einer Konföderation zu vernetzen. Ein weiteres Prinzip ist die Frauenquote. Frauen sind Teil aller Gremien, aber es gibt auch welche, die ausschließlich aus Frauen bestehen, und diese haben ein Veto-Recht. Das ist sogar bei realpolitischen Entscheidungen der Oppositionspartei HDP in der Türkei der Fall. Das existiert also nicht nur als Idee oder in Kontexten des Umbruchs wie in Syrien, sondern auch in autoritären Kontexten wie in der Türkei oder in einer kulturellen Selbstorganisation in der Diaspora.

Im November 2022 hat die zweite internationale Frauenkonferenz in Berlin stattgefunden. Du warst dort – wie war es und was wurde beschlossen?

RB: Sie wurde von der kurdischen Frauenbewegung organisiert. Es waren Frauen und Feminist_innen aus der ganzen Welt da. Es war spannend, dass die Ideen der kurdischen Freiheitsbewegung auf ein internationales Problem übertragen wurden, nämlich die Unterdrückung der Frauen*. Am Schluss wurde u. a. festgehalten, dass die Frauen gemeinsam weltweit einen Frauenkonföderalismus aufbauen möchten. Es gibt diesen gemeinsamen Nenner, wie man Unterdrückung wahrnimmt und sich davon befreien möchte. Das geht nur über Bündnisse und Allianzen.

Den Körper als Territorium zu verstehen, wie es in Abya Yala2 der Fall ist, das passiert auch im Frauendorf Jinwar in Rojava. Dort gehen Frauen nicht nur hin, wenn sie geschlechtsspezifische Gewalt erlebt haben, sondern auch um ihr eigenes Territorium und Land aufzubauen und Ökologie zu betreiben. Das hat alles etwas mit dem Verständnis von Kolonialismus zu tun, der eben nicht an Staatsgrenzen aufhört, sondern auch in unseren Körpern ist – und durch Umdenken über unsere Körper und unser Dasein befreit wird.

Inwiefern steht das in Zusammenhang mit Jineolojî, der Wissenschaft der Frauen?

RB: Im Westen gehen Frauen, die Gewalt erleben, in ein Frauenhaus, sie werden unsichtbar gemacht – nicht das Leben der Täter, sondern das der Opfer wird pausiert. In Rojava oder in den kurdischen Kontexten ist das anders. Ein geschützter Raum ist da, wo die Frau sichtbar ist. Aber sie ist nicht sichtbar als Opfer, sondern vor allem auch als Macherin, als Subjekt, als Frau, die Entscheidungen trifft, als Frau, die sich selbst organisiert und verteidigt, auch ideologisch. In diesen Kontexten ist sexualisierte Gewalt gesellschaftlich und politisch nicht legitim.

In der Türkei oder anderswo gibt es eine gewisse Straflosigkeit von Tätern, d. h., dass sie vor Gericht nichts zu befürchten haben und gesellschaftlich nicht geächtet werden. In Rojava ist das anders. Das ist auch Ergebnis einer neuen Wissensproduktion, von Jineolojî, in der Frauen keine passiven Objekte, sondern aktive Subjekte in der Gestaltung der Gesellschaft sind. Es ist ein Umdenken darüber, wie in der Geschichte Frauen dargestellt werden. Jineolojî ist der Versuch, Frauen als Entscheiderinnen, Entwicklerinnen oder Wissenschaftlerinnen zu begreifen, die sie seit Anfang der Menschheit sind. Dieses Wissen steht dem positivistischen, männlichen, hegemonialen Wissenskanon, der meistens auch kapitalistisch und kolonial ist, entgegen.

Wie wird der Begriff der Revolution verstanden?

RB: Wenn wir in den Geschichtsbüchern von Revolution lesen, geht es meist um den Umsturz eines existierenden staatlichen Systems oder einer Regierung und um die Errichtung eines neuen Staates. Revolution wird fast immer über den Staat gedacht und selten gesellschaftlich.

Kurd_innen sagen: „Der Weg der Befreiung geht durch die Revolution Rojavas.“ Aber sie sprechen auch vom Erschaffen einer politischen und moralischen Gesellschaft. Denn es geht nicht in erster Linie um den Umsturz einer Regierung. Alle Regierungen werden die gleichen Hierarchien schaffen, mal demokratischer, mal autoritärer.

Ziel ist es, eine Gesellschaft aufzubauen, in der das Individuum die eigenen internalisierten Unterdrückungsmechanismen reflektiert, dann im Kontext der Familie, im Freund_innenkreis bis hin zur politischen Ebene. Und dieses Umdenken, dieses Erschaffen einer neuen Moral und neuen Politik, ist etwas, das seit dem Paradigmenwechsel aufzubauen versucht wird.

Anmerkungen: 1 Das politische Leitkonzept in Nord- und Westsyrien will eine demokratisch-ökologische Zivilgesellschaft schaffen, in der der Staat keine signifikante Rolle mehr einnimmt und Hierarchien abgeschafft werden. // 2 Abya Yala ist ein vorkolonialer Name für den amerikanischen Kontinent vor der Ankunft der Europäer.

Hörtipp: Das ganze Interview ist als Radiosendung bei den Globalen Dialogen der Women on Air auf Radio Orange 94.0 vom 14.2. auf www.noso.at nachzuhören.

Zur Interviewten: Rosa Burç ist politische Soziologin am Center on Social Movement Studies in Florenz, wo sie zu politischen Vorstellungswelten von Staatenlosen forscht.

Zur Interviewerin: Andreea Zelinka ist Redakteurin der Zeitschrift frauen*solidarität.

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