Femizide global betrachtet

Ein Artikel von:
Tania Napravnik

Zu Hause sind Frauen besonders gefährdet

Im Jahr 2017 wurden 87.000 Frauen getötet, 50.000 von engen Angehörigen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie über weltweite Gewalt- und Tötungsdelikte, die im Juli 2019 vom UNDOC (United Nations Office on Drugs and Crime) veröffentlicht wurde1. Sie hält fest, dass zwar Täter und Opfer in beiden Bereichen vorwiegend Männer sind – aber nicht im familiären Umfeld. Dort töten viel eher Männer Frauen als umgekehrt. Der Artikel fasst die UNDOC-Studie zusammen und lässt ergänzend dazu Frauen aus der politischen und aktivistischen Praxis zu Wort kommen.

International wird der Begriff „Femizid“ dafür verwendet, wenn Frauen bzw. Mädchen aufgrund ihres Geschlechts getötet werden. Umstritten ist, in welchen Kontexten Femizide stattfinden: Werden Frauen aus geschlechtsspezifischer Verachtung getötet oder aus anderen Grün- den? Zudem gibt es unterschiedliche Arten von Femiziden – von sogenannten Ehrenmorden bis hin zu Tötungen aufgrund der sexuellen Orientierung. Aus der Studie geht hervor, dass Femizide seit den 1970ern immer mehr in die öffentliche Aufmerksamkeit gerückt sind. Frauenbewegungen sowie viele internationale Organisationen beschäftigen sich seit Jahrzehnten mit dieser Thematik. Im September 2018 starteten die Vereinten Nationen beispielsweise ein Programm, um gegen Femizide in Lateinamerika vorzugehen. Eine Reaktion auf das Jahr 2016: Denn damals befanden sich mehr als die Hälfte – nämlich 14 von den 27 – der lateinamerikanischen Staaten unter den 25 Ländern mit den höchsten Femizid-Raten. Damit einhergehend, entwickelte sich die Frauenbewegung #NiUnaMas (über- setzt: Kein Opfer mehr) in Lateinamerika, die sich gegen frauenspezifische Gewaltverbrechen und Tötungen auflehnt. In der Dokumentation „Das Schweigen brechen – Frauenmorde in Lateinamerika“2 aus dem Jahr 2015 prangert die bolivianische Informations- & Kommunikationsministerin Marianela Paco Durán die geschlechtsspezifischen Machtungleichheiten an: „Es muss einen Umbruch im Denken der Leute geben – Entpatriarchialisierung bedeutet, dass Männer nicht glauben, Frauen überlegen zu sein. Das muss aufhören.“

Faktencheck

Die UNDOC-Studie basiert auf den Aufzeichnungen von öffentlichen Gesundheitsinstitutionen, deren Klassifikationen für gewöhnlich mit den Kriterien der WHO (World Health Organisation) übereinstimmen. Dementsprechend wird Geschlecht nach medizinischen Kriterien eingeteilt und der Begriff Tötungsdelikt definiert als der beabsichtigte, unrechtmäßige Tod eines Menschen. LGBTQI-Personen finden in der Studie kaum Erwähnung, und das obwohl sie einem besonders hohen Gewaltrisiko ausgesetzt sind. Die lesbische Menschenrechtsaktivistin Monica Benicio berichtet über die aktuellen Geschehnisse in Brasilien: „Unter der Regierung des rechtskonservativen Präsidenten Jair Bolsonaro befinden sich LGBTQI-Personen ständig in Gefahr, da ihre sicheren Rückzugsräume verschwinden. Das zeigt sich schon allein an den zunehmenden Vergewaltigungen von lesbischen Frauen* in den Favelas. Dieses Phänomen wird corrective rape genannt. Durch die physische Gewaltanwendung sollen Frauen* von ihren homosexuellen Orientierungen abgebracht und dem Mann gefügig gemacht werden.“3

Hinzu kommt, dass nicht alle Länder über verlässliche Aufzeichnungsdaten verfügen und geschlechtsspezifische Gewaltakte weltweit als schlecht dokumentiert gelten. Ein Beispiel: Im Jahr 2015 wurden in Schweden die meisten Anzeigen im Bereich „sexuelle Übergriffe“ bei der Polizei gemacht, während es in Tansania nur drei offizielle Meldungen diesbezüglich gab. Die UNDOC-Studie geht aber von einer viel höheren Anzahl an Opfern in Tansania aus. Zudem wird speziell in Ländern des Globalen Südens staatlichen Institutionen misstraut. Die Ärztin Dr. Amanda Preira aus San Lorenzo (Peru) schildert: „Die Frauen kommen in erster Linie in die Notaufnahme, um ihre Wunden versorgen zu lassen. Die meisten Verletzungen werden durch scharfe oder spitze Gegenstände hervorgerufen. Leider werden diese Fälle selten angezeigt.“ Laut der UNDOC-Studie werden die meisten Femizide in Asien verübt. Die Gefahr, von Familienangehörigen getötet zu werden, ist jedoch am afrikanischen Kontinent am höchsten. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die Gesamtzahl der ermordeten Frauen weltweit sank, während die Zahl der Frauenmorde im familiären Umfeld stieg. Im Jahr 2017 wurden 50.000 Frauen durch Partner bzw. enge Bekannte getötet, im Vergleich dazu waren es im Jahr 2012 „nur“ 48.000 Frauen. Das heißt, dass täglich 83 Frauen von jemandem getötet werden, dem sie eigentlich Vertrauen schenken.

Die internationale Gemeinschaft steuert entgegen

Auf supranationaler und nationaler Ebene werden Strategien gegen frauenspezifische Gewaltverbrechen entwickelt. 2008 wurde eine Deklaration zu Femiziden von einem Expert_innen- Komitee verfasst, deren Ausgangspunkt das Übereinkommen von Belém do Pará bildet – ein Menschenrechtsinstrument der Organisation Amerikanischer Staaten, das 1994 etabliert wurde. In den Jahren 2013 (RES/68/191) und 2015 (RES/70/176) verabschiedeten die Vereinten Nationen jeweils eine Resolution zu geschlechtsspezifischen Tötungen. Unterstützend kommen jene Deklarationen hinzu, die sich generell gegen die Gewalt an Frauen und Mädchen wenden, wie beispielsweise das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) aus dem Jahr 1979. Auf nationaler Ebene werden geschlechtsspezifische Tötungen mit unterschiedlichen Strafmaßnahmen verfolgt. In Guatemala existieren beispielsweise spezielle Gerichte, um eine juristische Beurteilung von frauenspezifischen Verbrechen zu ermöglichen. Darüber hinaus wurde im Jahr 2008 ein Gesetz gegen Femizide verabschiedet. Seit dieser Reform stieg die Anzahl der Anzeigen zu häuslicher Gewalt. Jedoch blieb die Anzahl der daraus resultierenden Urteile niedrig: Im Jahr 2015 wurden 65.620 Fälle von Gewalt an Frauen von den zuständigen Behörden verzeichnet, von welchen 2.565 Fälle strafrechtlich verfolgt wurden. Ein Blick nach Peru bestätigt, dass „oftmals Frauen Anzeigen gegen Gewaltverbrechen erstatten, ohne dabei von den zuständigen Stellen ernst genommen zu werden. Man sagt ihnen, sie sollen ein anderes Mal kommen“, so Ana María Mandieta, Vizeministerin für Frauen und gefährdete Bevölkerungsgruppen.

Nationale Präventionsmaßnahmen

Um geschlechtsspezifischer Gewalt vorzubeugen, stellt die UNDOC-Studie drei Arbeitsbereiche inklusive Länderbeispielen vor.

1. Gesetzgebung: Armenien hat im Jahr 2017 legistische Änderungen vorgenommen, sodass Gewalt gegen Frauen geahndet werden kann. In diesem Sinn entstehen rechtliche Maßnahmen und Institutionen, die Opfer vor Gewalttätern schützen.

2. Prävention: Auf den Bahamas wurde eine Kampagne gestartet, um Kinder und Jugendliche über Missbrauch in Beziehungen zu sensibilisieren. Schüler_innen im Volksschulalter bis hin zur Oberstufe, Lehrer_innen und Krisenberater_innen konnten sich über sexuelle Grenzüberschreitungen austauschen. Das half Schüler_innen, Berührungsängste abzubauen, um im Notfall Hilfe in Anspruch nehmen zu können.

3. Bereichsübergreifende Zusammenarbeit: Im Jahr 2007 wurde in der tschechischen Gemeinde Moldau das Polizeipersonal geschult, wie sie sich in Notfallsituationen den Opfern gegenüber zu verhalten habe; es wurde eine 24-Stunden-Krisen-Telefonberatung eingerichtet und Öffentlichkeitsarbeit zum Thema häuslicher Gewalt betrieben.

Darüber hinaus verweist die SONKE Gender Justice-Mitarbeiterin Melissa Ofoedu auf das südliche Afrika und erklärt, dass „diese Länder schon seit Jahren zu sehr unterschiedlichen Präventionsmaßnahmen greifen. Zimbabwe setzt beispielsweise auf die Bereiche sexual and gender-based violence, community- based training für Männer und den Aufbau von Frauenhäusern.“4

Resümee

Die Studie zeigt, dass – obwohl allgemein betrachtet, mehr Männer als Frauen von Tötungsdelikten betroffen sind – Frauen häufiger aufgrund ihrer Geschlechtsidentität Opfer von Gewalt werden. Hinzu kommt, dass Frauen in Konfliktsituationen oft allein gelassen werden. Die Ecuadorianerin Katya Cabzas berichtet in der Dokumentation „Das Schweigen brechen – Frauenmorde in Lateinamerika“ über den Mordversuch ihres Mannes: „Niemand hat mich verteidigt. Alle haben nur darauf gewartet, dass ich leblos liegen bleibe. Es macht mich traurig, dass es Menschen gibt, die einfach zusehen, wie jemand anderer umgebracht wird.“ Um solchen geschlechtsspezifischen Gewaltakten vorzubeugen, sei es wichtig, insofern konkrete Handlungsschritte auf (inter)nationaler Ebene zu ergreifen. Denn die Studie hält fest, dass in vielen Fällen die Tötungsversuche an Frauen bzw. Femizide Resultate von lang anhaltender Gewalt sind, gegen die präventiv vorgegangen werden könnte.

Anmerkungen: 1 Global Study on Homicide 2019/UNODC: https://bit.ly/2Al1a1e // 2 Das Schweigen brechen – Frauenmorde in Lateinamerika, Dokumentarfilm Deutsche Welle: https://bit.ly/2mx6hbu // 3 Queerer Widerstand in Brasilien, Interview: Monica Benicio über das politische Erbe ihrer Partnerin, an.schläge VI / 2019 // 4 Melissa Ofoedu (Projektmitarbeiterin SONKE Gender Justice): Mailinterview über Femizide im südlichen Afrika

Webtipp: Take five: Fighting femicide in Latin America: http://www.unwomen.org/en/news/stories/2017/2/take-five-adriana-quinones-femicide-in-latin-america

Zur Autorin: Tania Napravnik koordiniert das Radioprojekt „Globale Dialoge – Women on Air“ in Wien und arbeitet als Kommunikationstrainerin im Frauenforum Gänserndorf.

Tania Napravnik: Femizide global betrachtet. In: frauen*solidarität Nr. 140+150 (3/2019).