Artikelbild

Die Revolution lebt

Ein Artikel von:
Sara Mohammadi

Iraner_innen kämpfen weiter!

Seit über 160 Tagen ertönt im ganzen Iran der Spruch „Jin, Jiyan, Azadî“ – „Frau, Leben, Freiheit!“. Ein Spruch, der aus der kurdischen Freiheitsbewegung stammt. Seit über 160 Tagen gehen im Iran die Menschen tagtäglich auf die Straßen, um zu protestieren. Frauen legen das ihnen aufgezwungene Kopftuch ab und verbrennen es sogar. Als Zeichen der Trauer und Solidarität mit verstorbenen Protestierenden schneiden sie sich die Haare ab.

Schüler_innen und Studierende streiken, zerstören Fotos des religiösen Führers Khamenei, die in jeder Schulklasse hängen, und zeigen ihm den Mittelfinger. Dabei protestieren Mädchen und Frauen nicht alleine. Auch Männer liefern sich Gefechte mit den Sicherheitskräften, zünden Polizeistationen an und bauen Barrikaden gegen die Sicherheitsleute. Zudem finden Generalstreiks in Geschäften und Fabriken statt, die teilweise das gesamte Land lahmlegen. Sie unterstützen die Iraner_innen und fordern ein Ende der Unterdrückung der Frauen.

Nichts ist mehr, wie es vorher war. Der Tod der 22-jährigen Kurdin Jina (Mahsa) Amini hat alles verändert. Am 13. September 2022 wurde Jina von der iranischen Sittenpolizei in Teheran verhaftet, da sie ihr Kopftuch angeblich zu locker getragen hatte. Die iranische Sittenpolizei besteht aus Männern, aber auch streng religiösen Frauen, die nach eigenem Ermessen Frauen anhalten, wenn sie sich nicht vorschriftsmäßig anziehen. Oft werden die verhafteten Frauen gegen Kaution wieder freigelassen. Jina Amini fiel in Polizeigewahrsam jedoch ins Koma und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Drei Tage später wurde ihr Tod gemeldet.

Laut polizeilichen Angaben erlitt Amini einen plötzlichen Herzinfarkt. Ihre Familie berichtete dagegen von Gewalteinwirkung seitens der Polizei. Bei der Beerdigung von Jina Amini begannen, ausgehend von kurdischen Städten, wie ihrer Heimatstadt Saqqez, Menschen zu protestieren und zu streiken. Mittlerweile haben sich die Demonstrationen auf das ganze Land ausgebreitet.

Point of no Return

Diese Proteste richten sich jedoch mittlerweile nicht nur gegen das Kopftuch – es ist ein Symbol, das für mehr steht: Das Ziel der Proteste ist mittlerweile ganz klar die Abschaffung des islamischen Regimes, also des gesamten politischen Systems. Für die Menschen im Iran ist eindeutig, dass mit dem bestehenden Regime nicht zu verhandeln, keine Reformen auszuloten sind. Sie sind nicht darauf aus, das iranische Parlament zu Gesetzesänderungen zu bewegen, sondern den gesamten Staat zu überwältigen. Wegen dieses Anspruchs wird auch bereits von einer Revolution gesprochen, von einem revolutionären Prozess, der sich nicht mehr umkehren lässt. Der Point of no Return wurde erreicht.

Die gestohlene Revolution

Dabei kennen sich die Iraner_innen mit Revolutionen bereits aus. 1979 schlossen sich Demonstrierende unterschiedlichster Ideologien im Iran zusammen und forderten das Ende der Monarchie. Diese Revolution wurden von Islamist_innen gekapert und mündete so in die sogenannte Islamische Republik. Mit der Errichtung der Diktatur der Mullahs werden seit 44 Jahren Menschenrechte, Frauenrechte und Rechte sexueller und ethnischer Minderheiten systematisch verletzt.

Aufstände gegen das repressive Regime gab es immer wieder. Bereits 1999 fanden die ersten größeren Proteste in Form von landesweiten Studierendendemonstrationen statt, die innerhalb weniger Tage niedergeschlagen wurden. 2009 gab es die sogenannte Grüne Bewegung – Proteste, die nach der Präsidentschaftswahl entflammten, bei der es einen offensichtlichen Wahlbetrug gab.

Seit 2017 fanden immer wieder Proteste statt, vor allem aufgrund der miserablen wirtschaftlichen Lage und Wasserknappheit. Diese wurden brutal niedergeschlagen, das Regime schränkte immer wieder den Internetzugang ein, damit die Außenwelt nichts von seinen Taten mitbekommt. Allein im November 2019 wurden innerhalb weniger Tage 1.500 Menschen in aller Stille getötet, ein Ereignis, das sich tief in den Köpfen der Iraner_innen eingebrannt hat. Das Regime bröckelte somit bereits lange vor dem Tod von Jina.

Jinas Effekt

Dennoch hatte Jinas Ermordung einen noch nie dagewesenen Effekt. Auf dem Grabstein von Jina Amini steht: „Du bist nicht gestorben, dein Name wird ein Symbol sein.“ Ihr Tod hat Protestierende im ganzen Land vereinigt. Die Tatsache, dass sie nicht nur eine Frau war, sondern auch Kurdin, die somit zu einer ethnischen Minderheit gehörte, hat dazu geführt, dass sich sämtliche Ethnien (der Iran ist ein Vielvölkerstaat) solidarisch mit der jungen Frau gezeigt haben. Das ist für das islamische Regime, das ansonsten von Spaltung und Rassismus zwischen den verschiedenen Ethnien lebt, etwas völlig Neues.

Dazu kommt, dass Menschen aus verschiedenen gesellschaftlichen Schichten zusammen auf die Straßen gehen. Waren es bei der Grünen Bewegung hauptsächlich die Mittelschicht in den großen Städten und 2017 vor allem ärmere Bevölkerungsschichten, lebt die derzeitige Revolution vor allem von ihrem klassenübergreifenden Charakter. Es handelt sich dabei ganz klar um eine feministische Revolution, die alle Geschlechter inkludiert und bei der auch Männer für die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten protestieren. Eine Revolution, bei der all die Gründe der vorherigen Proteste zusammenkommen – von der Abschaffung des Hijabs bis hin zu der Verbesserung der miserablen wirtschaftlichen Lage im Land. Eine Revolution, bei der jede_r einen Grund hat, auf die Straße zu gehen.

Mindestens 15.000 Gefangene

Das iranische Regime reagiert auf diese Einigkeit mit der Sprache, die es am besten beherrscht: rohe Gewalt. Die NGO Iran Human Rights berichtet von mindestens 516 Menschen, die im Zuge der Proteste von Sicherheitskräften getötet wurden, darunter befinden sich 70 Kinder (Stand Februar 2023). In 25 Provinzen wurden Demonstrant_innen getötet, die meisten davon in stark militarisierten Randgebieten wie Sistan, Belutschistan und Kurdistan. Dort geht das Regime mit besonderer Härte gegen die Protestierenden vor. Zudem befinden sich mindestens 15.000 Menschen in Gefängnissen, in denen Folter und Vergewaltigung an der Tagesordnung stehen. Mindestens 100 der Gefangenen droht die Todesstrafe. Viele Familien von politischen Gefangenen werden zum Schweigen gezwungen. Die ersten Todesurteile wurden bereits vollstreckt. Diese richteten sich bisher allesamt gegen junge Männer wie Mohsen Shekari, Majidreza Rahnavard, Seyed Mohammad Hosseini und Mohammad Mehdi Karami.

Die Revolution lebt

Das Regime versucht so, den Menschen im Iran Angst zu machen und die Revolution im Keim zu ersticken. Doch die Revolution lebt. Mit jedem Tod, den die Machthaber zu verantworten haben, gehen die Menschen erneut auf die Straßen. Jede Hinrichtung erzeugt eine_n weitere_n Märtyrer_in der Revolution. Jede Trauerfeier breitet sich zu einem je eigenen Protest aus.

Die Mittel des islamischen Regimes, das seit 44 Jahren von Angst und Schweigen lebt, sind nicht aufgegangen. Denn die Iraner_innen, seien es jene im Iran oder die der iranischen Diaspora, haben von den früheren Protesten gelernt. Sie haben gelernt, dass das Regime davon lebt, still und heimlich seine Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung ohne Konsequenzen durchzuführen.

Als 2019 Iraner_innen aufgrund hoher Spritpreise auf die Straße gingen, wurde das Internet weitgehend abgedreht, und in aller Stille und ohne internationales Echo wurden innerhalb weniger Tage 1.500 Menschen vom Militär getötet. Im Gegensatz zu vorherigen Protesten, die von der internationalen Staatengemeinschaft kaum Beachtung bekamen, fand die derzeitige Revolution im Iran große Aufmerksamkeit.

Die Wichtigkeit der internationalen Solidarität

Heute wird das islamische Regime genau beobachtet. Videos und Fotos von getöteten und verhafteten Menschen werden weltweit verbreitet. Diese werden vor allem von der iranischen Diaspora eingeordnet, übersetzt und geteilt. Es finden weltweit Protestaktionen und Solidaritätsbekundungen statt. Heute sieht die Welt dem Regime bei seinen Gräueltaten zu. Iraner_innen vor Ort berichten, wie viel Motivation und Kraft diese internationale Solidarität den Menschen gibt. Politiker_innen übernehmen Pat_innenschaften für politische Gefangene und zum Tode Verurteilte, die Vereinten Nationen schließen den Iran aus der Frauenrechtskommission aus und planen eine eigene Kommission zur Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen.

Diese internationale Solidarität, die übrigens zuallererst von Afghan_innen kam, die in Kabul vor der iranischen Botschaft in Solidarität mit den Iraner_innen protestierten, muss bestehen bleiben. Die Aufmerksamkeit für die Iraner_innen darf nicht verloren gehen. Erst vor wenigen Wochen beging ein Iraner in Frankreich Suizid und begründete dies in einem zuvor aufgenommenen Video mit der Intention, „die Aufmerksamkeit der Europäer_innen, der europäischen und westlichen Länder auf die Situation im Iran zu lenken“. Iraner_innen wissen nur zu gut: Revolutionen passieren nicht über Nacht, sie brauchen Zeit. Sie benötigen vor allem einen langen Atem, um das verbrecherische Regime ein für allemal loszuwerden.

Zur Autorin: Sara Mohammadi, geboren in Wien, ist freie Journalistin und Studentin mit iranischen Wurzeln. Sie schreibt vor allem über den Iran, Migration und soziale Gerechtigkeit.

Weitere Artikel aus dem Thema