Artikelbild: Mit viel Wut und dem unbedingten Willen zur Solidarität mit den anderen. Seda Tunc

INSTAGRAM POETRY

Ein Artikel von:
Seda Tunç

Was hinter dieser literarischen Gattung steckt

Lyrik, die älteste literarische Gattung, hält laut unterschiedlichen Forschungen auf der Social-Media-Plattform Instagram1 die höchste Leser_innenrate seit deren Bestehen. Im Gegensatz dazu wurden die ersten Insta-Poems anfangs von vielen Literaturkritiker_innen als „nicht Literatur genug“ eingestuft. Diese Art, im Netz zu schreiben, ist v. a. von Frauen mit Migrationserfahrung initiiert. Was steckt dahinter, und welche Besonderheiten hat diese literarische Form?

Nayyirah Waheed – eine Schwarze Poetin – hat diese negative Einstellung der vorwiegend akademischen und zum Teil elitär orientierten Literaturwelt zu spüren bekommen. Sie ist die erste Insta-Poetin, die eine sehr breite Leser_innenschaft erreicht hat. Bereits 2013 veröffentlichte Waheed ihre Insta-Poems erstmals in dem Lyrikband salt., und zwar über Amazon Self-Publishing-Service, weil sie von „klassischen“ Verlagen keine Zusage bekommen hatte. Ihr zweites Buch – nejma – hat sie ein Jahr später auf einer anderen unabhängigen Plattform publiziert. Ihren Insta-Account hat sie inzwischen gelöscht. Dennoch können sich ihre Insta-Poems durch das veröffentlichte Buch weiterhin verbreiten.

Knapp, schmucklos, ungereimt

Das sind Eigenschaften von Insta-Poems. Ein anderes kennzeichnendes Element ist der Ton, der sich zwischen den Schichten von Empowerment, Solidarität und Weisheit bewegt. Dieser Ton, zusätzlich zu den „Big Brothers“ Kolonialismus, Rassismus und Sexismus, trägt gesellschaftsbezogene Reaktionen und Symptome des neoliberalen Zeitalters in sich. Heilen ist unter Insta-Poems ein Schlüsselwort für dieses Phänomen. Besonders in der feministischen und kolonialen Geschichte gibt es immense Belastungen, mit denen viele Frauen auf der ganzen Welt sich täglich auseinandersetzen müssen. Das ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe für den enormen Erfolg von Insta-Poetry. Diese neue Art der Lyrik, bisher gibt es sie nur auf Englisch, ermöglicht vielen Frauen, in ihren Befindlichkeiten eine feministische, internationale und solidarische Alltagskraft zu spüren.

Zurück zu salt.

Das Buchcover, so wie die „Gedichtbilder“ auf Instagram, hat einen schlichten Hintergrund: eine weiße Fläche, darauf der in schwarzen Kleinbuchstaben geschriebene Titel salt. ganz unten am rechten Seitenrand. Was macht der Punkt am Ende eines Titels? Einerseits wird hier das Wort salt einem Satz gleichgestellt, andererseits ist der Punkt, rein visuell betrachtet, eine bildliche Übersetzung des Wortes: ein Salzkorn. Der Titel mit dem Punkt ist in diesem Sinne eine Übersetzung für den Insta-Prozess des Gedichtes, sozusagen auf ein Bildformat gebracht. Und schließlich mag dieser Punkt auch eine Metapher für Afrika sein, das in jedem der Gedichte in diesem Buch indirekt mitschwingt.

Das nur in Kleinbuchstaben geschriebene 251-seitige Buch besitzt kein Inhaltsverzeichnis. Es handelt sich um eine Art Reproduktion, oder, wenn wir bei dem Begriff übersetzen bleiben wollen, eine Übersetzung der Unüberschaubarkeit, die Instagram produziert, eben in Buchformat.

Weiters gibt es keine Gedichttitel, stattdessen Schlüsselwörter am Ende der Gedichte, wie Hashtags auf Insta-Poems. Reime: gibt es keine. Viele Gedichte bestehen aus zwei bis fünf Zeilen, einige nur aus einer Zeile. Jedes Gedicht endet ausnahmslos mit einem Punkt. Waheed thematisiert in diesem Band vor allem die koloniale Geschichte,die afrikanisch-amerikanische Identität sowie White Supremacy.

Wer schreibt diese Lyrik?

Social Media Poetry wird mit einer bestimmten Dringlichkeit besonders von nichtweißen Dichterinnen mit Migrationserfahrungen geschrieben. Mit viel Wut und dem unbedingten Willen zur Solidarität mit den anderen.

Deshalb ist es vielleicht wenig überraschend, dass in diesen kurzen Poetry-Formaten viele mikropolitische Themen aufgegriffen werden. Außerdem findet so die Perspektive, Lyrik nicht auf Sonnette zu reduzieren und ihre Existenz auch außerhalb der klassischen elitären Definitionen gesellschaftskritisch zu schätzen, ihren Platz. Dennoch zeigen sich auch einige Nachteile, die vor allem im prekären Charakter dieser Art der Veröffentlichung liegen. Bei Insta-Poetry sind v. a. Frauen dem Risiko von Zensur oder Löschung der Posts sowie dem temporären oder permanenten Sperren von Accounts ausgesetzt, was eine Gefahr für die Existenz der Gedichte darstellt. Unter diesem Gesichtspunkt hat – auch wenn Social Media neue Möglichkeiten für Autor_innen ebenso wie fürs Publikum eröffnet, –  auch das gute alte Buchformat weiterhin einiges anzubieten, etwa wenn es um Rechtssicherheit geht.

Anmerkung: 1 In der 2012 gegründeten und täglich von über einer Milliarde Menschen benutzten Plattform Instagram geht es um die visuelle Narration. Im Falle von Insta-Poems können die paratextuellen Eigenschaften, etwa die Amalgamierung von Text und Bild oder der Text als Bild, im digitalen Universum endlos verbreitet werden.

Lesetipp: Nayyirah Waheed (2013): salt. CreateSpace Independent Publishing Platform

Zur Autorin: Seda Tunç ist Lyrikerin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin. Sie studierte englische und amerikanische Philologie in Wien und in Istanbul. Ihr erster Lyrikband „WELCH“ erschien 2021 in der edition mosaik.