Die FIFA-Fußballweltmeisterschaft der Männer 2022
Interview mit Rasha Younes
Im November und Dezember 2022 ist Katar Schauplatz der FIFA-Fußballweltmeisterschaft der Männer. Sportgroßereignisse geben Anlass, über Missstände aufgrund patriarchaler Herrschaftsverhältnisse zu diskutieren. Jedoch sollte nicht nur aus Sensationslust darüber gesprochen, sondern auch gehandelt werden. Dani Baumgartner und Claudia Dal-Bianco haben bei der Menschenrechtsexpertin Rasha Younes nachgefragt.
Wie ist die Situation von LGBTIQ+-Personen in Katar?
Rasha Younes (RY): Katar bestraft gleichgeschlechtliche Beziehungen mit bis zu sieben Jahren Gefängnis. Die FIFA wusste das, als sie Katar 2010 den Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft erteilte. Das steht im Widerspruch zu den eigenen Statuten, die Diskriminierung jeglicher Art aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität verbieten. Innerhalb des Landes sind keine abweichenden Meinungen zu diesem Thema zugelassen. Aktivist_innen müssen ihre Arbeit verstecken und kommunizieren hauptsächlich im Netz. Die WM ist nur eine Gelegenheit, die allgemeine Menschenrechtslage in Katar anzusprechen, aber sie ist in keiner Weise ein Katalysator für Veränderung.
Die katarischen Behörden haben wiederholt gesagt, dass jede_r bei der WM willkommen ist. Es steht den Fans frei, die Regenbogenflagge bei den Spielen zu hissen. Was ist aber mit den Rechten von Kataris? Die Akzeptanz gilt nur für die Gäste von außerhalb. Die WM hat dazu beigetragen, das Thema um die Rechte von LGBTIQ+ zu beleben und die Erfahrungen von LGBTIQ+-Personen in Katar zu beleuchten. Sie hat aber keine Sensibilisierung oder Lobbyarbeit innerhalb des Landes oder gar auf internationaler Ebene bewirkt.
Welches sind die politischen Forderungen von LGBTIQ+-Menschen in Katar?
RY: Die Menschen sollen ihre Grundrechte ausüben dürfen, sei es online oder offline. Kataris werden von den Behörden im großen Umfang überwacht. Leute haben uns berichtet, dass sie willkürlich verhaftet werden, weil sie Inhalte online gestellt haben, die gegen die sogenannte öffentliche Moral verstoßen. Im Vorfeld der WM setzen sich zwar viele Menschen für die Rechte von LGBTIQ+ ein, aber in vielerlei Hinsicht ist dies ein Risiko für die Sicherheit der Menschen vor Ort, die die Konsequenzen spüren werden, nachdem die Tourist_innen abgereist sind.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es während der WM keine groß angelegten Verhaftungen geben wird. Danach besteht aber große Gefahr, dass es dazu kommt. Ihre Forderungen sind ziemlich einfach: Sie fordern das Recht auf Versammlung, auf freie Meinungsäußerung und auf legale Anzeige, falls sie z. B. verhaftet werden oder familiärer Gewalt ausgesetzt sind.
Russische LGBTIQA+-Organisationen, die während der FIFA-WM 2018 an Sichtbarkeit gewonnen hatten, sahen sich in der Folge mit verstärkter Verfolgung und Diskriminierung konfrontiert. Manche behaupten, Sichtbarkeit und Coming-out seien westliche Indikatoren für Gleichberechtigung und nicht unbedingt für LGBTIQ+-Menschen auf der ganzen Welt von Vorteil. Welche politischen Strategien erscheinen LGBTIQ+-Kataris geeignet, um ihre Situation zu verbessern?
RY: Menschen kämpfen für Rechte, die auch anderen Gruppen verweigert werden, wie zum Beispiel Wanderarbeiter_innen oder Frauen*. Sie wissen, dass es notwendig ist, sich auf gemeinsame Forderungen zu einigen, die nicht nur LGBTIQ+-Personen betreffen. Es geht nicht darum, bei einem Spiel eine Regenbogenflagge zu hissen. Das sind nicht die Bedürfnisse der Menschen vor Ort. Die Bedürfnisse bestehen darin, eine Gemeinschaft zu finden, um ihre Anliegen im Rahmen eines strategischen Ansatzes zu behandeln, der die Anliegen anderer marginalisierter Gruppen in einem intersektionellen Ansatz innerhalb des Landes berücksichtigt. Die Perspektive von schwulen Männern ist nicht dieselbe wie die von LBQ-Frauen aus unteren Schichten.
Du hast gerade von einem Unterschied zwischen schwulen Männern und lesbischen Frauen geredet. Kannst du das näher beschreiben?
RY: Wenn wir über den Zugang zu sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung, zu behördlichem Schutz in Fällen sexueller Gewalt und über Vormundschaft, Zugang zum Arbeitsmarkt und freie Mobilität für Frauen sprechen, dann sprechen wir in erster Linie über alleinstehende Frauen, von denen viele lesbisch, bisexuell oder queer sind. Sie erleben Stigmatisierung nicht nur als LBQ, sondern vor allem auch als alleinstehende Frauen. Denn die Gesetze basieren darauf, dass es alleinstehende Frauen sind.
Sie können auch im Privaten ihre sexuelle Orientierung schwerer ausleben. Sie können keine Hotels buchen, sie können das Land nicht ohne die Erlaubnis eines männlichen Vormunds verlassen, sie können nicht zu einem Arzt gehen, um nach Verhütungsmitteln zu fragen. Ihre Lebensumstände sind völlig anders, da sie von struktureller Gewalt geprägt sind.
Was ist mit Transgender-Personen in Katar? Wie ist ihre Situation?
RY: Viele trans Frauen werden von der Gesellschaft und den Behörden als Männer wahrgenommen. Wer die politischen und menschenrechtlichen Verbrechen in einem Land verstehen will, sollte trans Frauen und trans Männer fragen, denn sie machen in jedem Aspekt ihres täglichen Lebens die schlimmsten Erfahrungen. Sie werden kaum sehen, dass trans Personen offen in Katar unterwegs sind. Aber es gibt Communitys, in denen trans Menschen nicht allein sind. Und es existiert eine größere Bewegung außerhalb des Landes, die sich für trans Rechte einsetzt. Die Erfahrungen von trans Personen in Katar gehören, was Gewalt angeht, zum Schrecklichsten, das mir bis jetzt begegnet ist.
Wie können Aktivist_innen und internationale Organisationen die Bemühungen während der FIFA-Weltmeisterschaft 2022 und darüber hinaus unterstützen?
RY: Das Wichtigste ist, dass wir die Situation im Land auch nach der WM weiter beobachten. Dies ist ein Appell an internationale Akteur_innen, sich für Veränderung in Katar einzusetzen. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie einflussreiche Menschen die LGBTIQ+-Rechte beeinflussen oder sogar auf die Agenda der katarischen Behörden bringen können.
Aber das darf nicht dazu führen, dass Menschen, die sich im Land aufhalten, gefährdet werden. Wenn wir über Outing und Coming-out sprechen, fragen wir uns, für wen genau: Wer muss wissen, dass ich queer oder trans bin, damit ich legitim bin?
Es ist notwendig, sexuelle Vielfalt und Geschlechtervielfalt weiterhin auf allen Plattformen, insbesondere auf internationalen Foren, anzusprechen. Aber es braucht auch eine neue Form, wie Unterstützung für LGBTIQ+-Kataris angeboten wird. Es wäre hervorragend, wenn ihre Forderungen auf strategische Weise innerhalb des Landes vorgebracht werden könnten, zum Beispiel von NGOs, die sich mit Menschenrechen allgemein beschäftigen. Aber sie müssen auch international auf eine Weise gespiegelt werden, die sie nicht zum politischen Einsatz in einem Diskurs um den Konservatismus ihres Landes machen. Die Art, wie diese Themen angesprochen werden, muss die Verantwortlichkeit zurück auf die Staaten lenken und sie davon abhalten, Menschen zu schikanieren.
Webtipp: www.unserspiel.at
Zur Interviewten: Rasha Younes ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Programms für LGBT-Rechte bei Human Rights Watch und untersucht Missbräuche gegen LGBT-Menschen im Nahen Osten und in Nordafrika.
Zu den Interviewenden: Dani Baumgartner arbeitet für die Bibliothek der Frauen*solidarität. // Claudia Dal-Bianco ist Redakteurin der Zeitschrift frauen*solidarität.