Bolivien nach der Krise 2019
Interview mit Yolanda Mamani
In Bolivien kam es 2019 zu Unruhen, 2020 folgten Neuwahlen. Yolanda Mamani ist YouTuberin und vieles mehr. Sie berichtet Claudia Dal-Bianco im Interview über die politische Lage in Bolivien.
Die einen sprechen von Putsch, die anderen von Wahlbetrug. Nach 14 Jahren im Amt musste der indigene Präsident Evo Morales der Partei MAS (Movimiento al Socialismo) abdanken. Da die bolivianische Verfassung nur eine Wiederwahl zulässt, war schon Morales‘ zweite Wiederwahl 2014 umstritten. Als er sich 2019 erneut wählen ließ, wurde er vom Militär zum Rücktritt gezwungen. Mehrere Menschen kamen bei Protesten ums Leben1. Nach einer rechten Übergangsregierung mit Janine Añez kam es im Oktober 2020 zu Neuwahlen, die der linke Kandidat Luis Arce von der MAS gewann.
Radiomacherin, YouTuberin, ehemalige Hausangestellte, Vorstand der Gewerkschaft für Hausangestellte, Indigene, Soziologiestudentin und Mitglied bei der feministischen Organisation Mujeres Creando – all das beschreibt Yolanda Mamani. Sie ist eine Chola – eine Frau, die traditionelle bolivianische Kleider trägt. Chola war in Bolivien lange Zeit ein abwertender Begriff, aber Yolanda Mamani hat ihn sich zu eigen gemacht und nennt sich Chola Bocona, was so viel heißt wie die Chola, die ihren Mund nicht hält.
Seit ihrem elften Lebensjahr wurde sie als Hausangestellte ausgebeutet. Ihren Eltern fehlte das Geld, um ein Studium oder eine Ausbildung zu finanzieren. Aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen begann sie gegen die moderne Sklaverei und das rassistische System in Bolivien zu rebellieren.
Wie bist du zur YouTuberin geworden?
Yolanda Mamani (YM): Ich habe mit dem Radio angefangen, und zuallererst ging es mir darum, Arbeitsausbeutung und Rassismus sichtbar zu machen. Aber ich fand auch das Internet immer interessant, weil man dadurch viele Leute erreichen kann und es keine Kosten verursacht, außer die für das Internet selbst. Ich hatte einen Blog, der hieß „Chola zu sein ist jetzt modisch“. Danach habe ich den YouTube-Kanal gestartet. Es ging mir vor allem um Kritik, um die Instrumentalisierung der Figur der Chola und der Indigenen insgesamt.
Mit der MAS-Regierung unter Evo Morales wurden indigene Frauen als Dekoration in öffentlichen Ämtern und Medien eingesetzt. Es gab aber keine Begegnung auf Augenhöhe, sondern die Chola blieb in einer untergeordneten Position, als Dienerin. Ich habe erst dann Reichweite gewonnen, als meine Stimme auch ein Gesicht bekommen hat. Denn zusätzlich zu meinem Radiopublikum habe ich ein neues Publikum gewonnen, eines, das nicht in La Paz lebt, sondern aus allen Regionen Boliviens stammt und sogar international ist.
Du hast nun Indigene und die MAS erwähnt. Wie siehst du die Regierungszeit von Evo Morales?
YM: Ich war sehr begeistert, als Evo Morales ins Amt gekommen ist. Denn in den früheren Regierungen war es Standard, dass Indigene entmenschlicht und kriminalisiert wurden. Man musste immer den Kopf beugen. In der Zeit, als Evo Morales Präsident wurde, war ich in der Gewerkschaftsleitung. Ich habe mich damals mit ihm identifiziert, weil er als Interessenvertreter der Kokabauern zum Präsidenten aufgestiegen ist. Ich habe mit eigenen Augen gesehen, dass man von unten bis ins höchste Amt im Staat gelangen kann, um die Probleme in unserem Land zu lösen. Es war ein sehr emotionaler Moment. Wir haben gefeiert.
Wir alle waren Frauen vom Land, die in die Stadt gekommen sind. Wir dachten, dass unsere Situation als ausgebeutete Arbeiterinnen sich verändern wird. Wir hatten große Hoffnungen. Als Gewerkschafterinnen hatten wir natürlich auch viele Forderungen an die Regierung. Eine der wichtigsten war ein Gesetz zur Regulierung der Arbeit von und eine Sozialversicherung für Hausangestellte. Dieses Gesetz wurde von der Regierung Morales nie verabschiedet. Und nach seiner dritten Amtsperiode war ich dann sehr enttäuscht.
Auf symbolischer Ebene hat er viel bewirkt, vor allem haben wir unseren Stolz als Indigene wiedergewonnen. Aber auf praktischer Ebene weniger: Ich bin da sehr kritisch. Es gab Fälle von Korruption. Ich kritisiere auch seinen eingefleischten Machismo. Wann immer es sich ergibt, macht er uns Frauen mit Witzchen und Aktionen herunter. Und sein Autoritarismus geht gar nicht. Evo Morales ließ nie die geringste Kritik zu. Wenn wir ihm Machismo vorgeworfen haben, wurden wir als Rechte gebrandmarkt.
Hast du das Gefühl, dass du die Einzige bist, die ihn kritisiert?
YM: Seine Präsidentschaft wurde sehr romantisiert und idealisiert, sowohl in anderen lateinamerikanischen Ländern als auch in Europa. Aber Evo Morales ist auch nur ein Mensch, und als solcher hat er Fehler. Indigene sind keine Heiligen. Verschiedene Korruptionsfälle sind schon vorher ans Licht gekommen, aber es waren besonders seine Ambitionen, im Amt zu bleiben, die die Krise 2019 ausgelöst haben. Es war ein sehr komplexes Geschehen und es ist nicht so leicht zusammenzufassen, was in Bolivien zu dieser Zeit passiert ist.
Auch jetzt, nach der Krise, ist innerhalb der Partei eigentlich keine Kritik zu hören. Ich selbst habe kurz vor Ausbruch der Krise mit einer Gewerkschafterin ein Interview geführt und dabei die Arbeit der Regierung kritisch angesprochen. Sie wollte nichts davon hören. Sie meinte, dass die Weißen schon kritisch genug sind und uns indigene Kritik nur noch mehr schadet. Ich bin aber der Meinung, dass wir nicht alles hinnehmen sollen, denn nur Kritik führt dazu, dass sich etwas ändert!
Wie war es, nachdem Morales weg war?
YM: Die Übergangsregierung von Janine Añez war eine schreckliche religiös-fundamentalistische und faschistische Regierung, die uns Indigene unterdrücken und auslöschen wollte. Es war eine sehr harte Zeit, in der klar wurde, dass wir nie wieder eine rechte Regierung haben wollen, die uns Indigene so behandelt. Es gibt immer noch eine rechte Bewegung in Bolivien, die in dieses Zeitalter zurück will, und das müssen wir verhindern.
Bei der Wahl im Oktober 2020 gab es eigentlich nur die Wahl zwischen der MAS-Partei und den Rechten. Positiv war, dass es in der MAS nicht nur eine einzige Person gab, auf die sich alles fokussierte.
Was wünschst du dir für Boliviens Zukunft?
YM: Als erstes denke ich an die vielen toten Frauen. Der Staat versagt, und die Justiz ist ein korruptes System. Es gibt Korruption in den Gerichten, in den Staatsanwaltschaften, Richter sprechen Täter von Femiziden nach kurzer Zeit frei, weil sie bestochen werden. Mein größter Wunsch ist, dass sich das ändert!
Die Inklusion der Indigenen und der Cholas – nicht nur auf diese instrumentalisierende Art und Weise – soll endlich stattfinden. Cholas sollen in hohen Ämtern sitzen, damit es wirklich zu einem Mentalitätswechsel kommt. Warum nicht eine Chola als Vizepräsidentin oder Präsidentin statt als Kulturministerin?
Wenn ich gefragt werde, was man in Europa machen kann, um den indigenen Frauen in Bolivien zu helfen, sage ich, dass man gar nicht bis nach Bolivien gehen muss. Man kann die Probleme vor Ort bekämpfen, die auch mit Rassismus und Klassismus zu tun haben und hauptsächlich Migrantinnen betreffen, die aus beispielsweise Lateinamerika kommen.
Anmerkung: 1 Das Institut für Rechtsmedizin hat nach eigenen Angaben Autopsien an 27 Personen durchgeführt, die zwischen dem 20. Oktober und dem 22. November 2019 bei Protesten ums Leben gekommen sind.
Medientipp: Der YouTube-Channel „Choloa Bocona“,https://www.youtube.com/channel/UCl_N_X-kKqrM7myc56X0AFQ
Zur Interviewten: Yolanda Mamani ist Medienmacherin und nutzt ihre Stimme, um Kritik, an den ausbeuterischen Verhältnissen und der Regierung zu üben.
Zur Interviewerin: Claudia Dal-Bianco ist Redakteurin bei der Zeitschrift frauen*solidarität.