Sigrun Berger (16.1.1934, Krems–17.12.2021, Wien)
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Sigrun Berger war eine der Gründerinnen der Frauen*solidarität1, sie war viele Jahre Obfrau und dann bis zu ihrem Tod am 17. Dezember 2021 unsere Ehrenvorsitzende. Sie hat von Anbeginn die entwicklungspolitische Arbeit und die internen Prozesse unserer Organisation entscheidend geprägt2.
„Wenn ich dich suchen würde, könnte ich 20 verschiedene Häuser betreten und wüsste sofort, welches deines ist, denn deine Anwesenheit ist in jedem der Orte, an denen du gewohnt hast, spür- und sichtbar. In unserem Haus bringen jeden Tag dein Lebensbaum, deine Malereien, der kleine Keramik-Fisch, die kleinen Krüge dich und deine Landschaft zu uns.“ Diese Worte schrieb Verónica Salas, eine chilenische Freundin, in ihrer Hommage zu Sigruns 70. Geburtstag3.
So geht es wohl vielen von uns, die mit Sigrun zusammengearbeitet haben und/oder mit ihr befreundet waren: Ihr künstlerisches und handwerkliches Geschick hat überall Spuren hinterlassen, in vielen Wohnungen, an zahlreichen Orten ihrer Tätigkeit über die Jahrzehnte, in Österreich, Chile, Nicaragua – und damit auch in den Herzen von unzähligen Frauen, Männern und Kindern, die dieser einzigartigen Frau begegnet sind.
Das Elternhaus
Sigrun wuchs mit ihren drei Geschwistern in Krems und Mautern auf. Der Vater ein bekannter Kunsttischler, die Mutter mit musischer Ader, „in einem Elternhaus, das uns heute als Paradies erscheint“, wie Solveig Riel, die zwei Jahre jüngere Schwester bei ihrer Abschiedsrede am 27.12.2021 betonte. „Unsere Eltern haben sehr bald Sigruns künstlerische Begabung erkannt, und sie hat ihren Neigungen folgen dürfen.“ Als Beispiel erwähnte Solveig das Weihnachtsgeschenk Töpferscheibe, das Sigrun gleich im sogenannten Christkindzimmer ausprobierte – mit dem Ergebnis, dass Ton an den Wänden und allen Gegenständen klebte. Und weiter: „Mamas musische Ader, die sie uns beim Vorlesen und beim Klavierspielen geschenkt hat, ist uns immer geblieben. Zudem haben wir ihre Großherzigkeit und Offenheit und Hilfsbereitschaft für die Sorgen anderer vorgelebt bekommen.“
Gleichzeitig wollten die Eltern, vor allem die Mutter, „viel von dem, was sich rund um uns ereignet hat, von uns fernhalten. Das ist ihnen bei mir nur teilweise gelungen. Ich erinnere mich an vieles, auch daran, dass es nicht gut war, zu viel nachzufragen. Soldaten, weinende Frauen, Gefangene und Kolonnen von KZ-Häftlingen, Ostarbeiterinnen, lange Züge von Flüchtlingen (…) – all das habe ich auch gesehen“, betonte Sigrun.
Im Inneren ein Paradies, nach außen hin viele offene Fragen. Für Sigrun keine einfache Situation, wie sie immer wieder feststellte. Und generell eine andere Sicht der Dinge: „Es hat mich mein ganzes Leben lang beschwert, dass die Familie, aus der ich komme und die ich auch gern habe, eine von mir so verschiedene politische Ausrichtung hat.“ Was Sigrun wohl etwas darüber hinweg half: Sie hat „diese Lebensführung (aus dem Elternhaus) in unvergleichlich hohem Maß ins Leben mitgenommen, mit ganz viel Liebe, in ihre Familie, in ihre künstlerische Entfaltung und ihre vielen Freundschaften“, wie ihre Schwester Solveig in ihrer Abschiedsrede berichtete.
Künstlerisch-handwerkliche Pionierarbeit
Sigrun war in vielerlei Hinsicht Pionierin. Zuallererst tat sie sich durch ihre handwerklichen und künstlerischen Fähigkeiten hervor: Das Kunsttischlereihandwerk lernte sie im väterlichen Betrieb früh, und sie hat sich u. a. für das Schnitzen begeistert. So stammen etwa die im Zuge des Wiederaufbaus geschnitzten Teile der Empore der Orgel im Stephansdom von ihr4. Und auch die biblische Geschichte von Noah, als er den Rebstock von Gott erhält, am Fassboden des 1000-Eimer-Fasses, das bei Lenz Moser in Krems zu besichtigen ist: Diesen Fassboden hat Sigrun mit 19 Jahren im Sommer 1953, auf einem Gestell im Hof der Werkstatt, geschnitzt. Der Wein, der nach der Verabschiedung von ihr vor der Feuerhalle Simmering gereicht wurde, stammt aus diesem Fass. Den Noah-Wein gibt es weiterhin zu kaufen – und zu trinken, in Erinnerung an Sigrun und an den gemeinsamen Ausflug zu diesem imposanten Fass, den wir im September 2020 organisierten5.
Die Jahre in Südamerika
Pionierin war sie in ihrem Leben immer wieder: so etwa in der österreichischen Entwicklungshilfe, wie sie damals noch hieß, als sie 1964 mit ihrem ersten Mann Sepp Pernerstorfer eine von Österreichs ersten „Entwicklungshelfer_innen“ war – sie als MEF, als „Mitreisende Ehefrau“, denn eigene Arbeitsverträge für Ehefrauen waren in dieser Zeit noch nicht vorgesehen. Der Wunsch, „über das hinauszugehen, was ich kenne“, wie Sigrun 2002 in einem Interview im Südwind-Magazin erzählte, entstand schon sehr früh – v. a. auch durch ihre Konfrontation mit Rassismus in der Kriegs- und Nachkriegszeit.
Die Lust auf Neues führte Sigrun 1964 nach Bolivien, ins Tiefland nach San Ignacio de la Velasco. Familie und Freund_innen in Österreich seien dagegen gewesen, hatten alle erdenklichen Vorurteile, und zwar negative. Sepp und sie seien beide, ohne vorher viel zu wissen, was sie dort erwartet, nach Bolivien gefahren. Sepp als Agraringenieur, sie als MEF, mit vier kleinen Kindern.
Es war die Aufbruchsstimmung der frühen Sechzigerjahre, „mir sind die Augen für vieles aufgegangen, es war eine Zeit der Bewegung. Heute, nach mehr als 35 Jahren, weiß ich, es war ein positives Vorurteil, das man uns entgegengebracht hat. Sie haben mich gelehrt, um was ich mich bis heute bemühe, es behalten und nicht vergessen will: Menschen, denen ich begegne, das Gute zuzutrauen und sie so zu sehen, wie Lateinamerikaner_innen bereit waren, mich zu sehen. (…) Es hat mich verändert, wie ich in der Fremde aufgenommen wurde. Es hat mir im Auf und Ab meines Lebens geholfen wie ein wertvolles Geschenk.“
Es seien harte Jahre gewesen, „wenn man die vielen Krankheiten, das Essen und Wohnen und den Geldmangel zum Maß nimmt. Aber es waren wunderbare Jahre, wenn ich bedenke, wie viel Zuneigung wir erfahren haben, wie wir zunehmend lernten, in einer anderen Kultur zu leben.“ So wie die Geste der jungen Bolivianerin, die Sigruns eben geborene und weinende Tochter Magdalena stillte, als Sigrun sich gerade erfrischte. Milchschwestern und -brüder gab es einige, denn Sigrun stillte ihrerseits Neugeborene, die ihr aus der Krankenstation in San Ignacio gebracht wurden.
Dem Aufenthalt in Bolivien folgte ein weiterer in Chile. Sigrun ging 1968 mit ihrer mittlerweile größer gewordenen Familie nach Santiago. Die politische und soziale Aufbruchsstimmung, der Sieg Salvador Allendes im Jahr 1970, der eine sozialistische Gesellschaft auf demokratischem Weg aufbauen wollte – all das bewog Sigrun, sich in diesen Prozess einzubringen, und ließ den Plan reifen, langfristig in Chile leben zu wollen. Der Plan wurde am 11. September 1973 mit dem Putsch der Generäle und der Machtergreifung Pinochets zunichtegemacht.
Zurück in Österreich, begann Sigrun sich kritisch mit entwicklungspolitischen Themen auseinanderzusetzen. Als MEF und in Bezug auf Entwicklungshilfeprojekte waren ihr die patriarchalen und sexistischen Strukturen bewusst: „Meine Erfahrung war, dass alle Projekte Männern oder Buben zugutekamen, das habe ich als sehr ungerecht empfunden. Die Frauen haben so viel Verantwortung und Arbeit. Sie kämpfen auch um ihre Rechte, aber sie werden zu wenig unterstützt. Ich habe viel Überlebenswichtiges von ihnen gelernt: wie man unter einfachsten Bedingungen lebt, mit Krankheiten umgeht oder zu Trinkwasser kommt.“
Feminismus und Entwicklungspolitik gemeinsam denken
All ihre Erfahrungen aus den Jahren in Bolivien und in Chile, besonders was die Situation der Frauen betraf, brachte sie in die Frauensolidarität ein. Auch Johanna Dohnals „Interesse für Frauen in anderen Ländern“ war für Sigrun ein Anstoß zur Gründung der Frauensolidarität 1982. Der Anfang sei in vielerlei Hinsicht nicht einfach gewesen, denn verschiedene Erfahrungen und Interessen seien aufeinandergestoßen.
Daran erinnerte sich 1999 auch eine andere Mitbegründerin, nämlich Gerda Neyer, die heute wieder Teil des Vorstandes ist: „Zu Beginn war Sigrun mit den autonomen Feministinnen nicht so ganz auf einer Linie und im Herzen der sozialistischen Idee weiterhin verbunden. Sie begann jedoch die Notwendigkeit feministischen Engagements, auch innerhalb der Linken, zu erkennen und sich dafür einzusetzen.“Und zum berühmten Foto von Neuhaus meinte Gerda: „Sigrun hat uns zusammengebracht.“
Besonders die älteren Frauensoli-Mitglieder erinnern sich an diese legendären Arbeitswochenenden in Neuhaus bei Mariazell, im Feriendomizil von Sigrun und ihrer Familie, nicht nur wegen der spannenden politischen Diskussionen, sondern auch wegen der kulinarischen Vielfalt v. a. lateinamerikanischer Herkunft, die Sigrun uns angedeihen ließ. In den 1990er Jahren fanden die Klausuren Fortsetzung in Litschau im Waldviertel, nicht minder spannend und kulinarisch. Und auch bei den vielen Sitzungen, Veranstaltungen und Festen kam Sigrun stets mit einem Korb voller Gaben, offenen Armen und einem Lächeln im Gesicht.
Die große Liebe
In all den Jahren ihres Engagements in und mit der Frauensolidarität blieb Chile ihr – und auch ihres zweiten Mannes Herbert Berger – Sehnsuchtsland: Der Sieg von Gabriel Boric in der Präsidentschaftswahl am 19. Dezember – nur zwei Tage nach ihrem Tod – hätte ihr große Hoffnungen gemacht, dass in Chile, 30 Jahre nach dem Ende der Diktatur, endlich und vor allem für arme Frauen, für Indigene, aber auch in der Justiz, im Gesundheits- und Bildungswesen mehr Gerechtigkeit Einzug hält.
Chile ist die große Liebe geblieben. Wohl auch deshalb, weil der Traum so brutal und nachhaltig zerstört wurde, wie Sigrun in einem Interview erzählt: „Geglückt war die Möglichkeit, sich vor dem Putsch in eine Welle von Hoffnung und Aufbauwillen einzubringen. Das Ende war tragisch, und wir mussten Chile verlassen.“ Denn Sigrun und Herbert hatten nach dem Putsch Verfolgten Unterschlupf gewährt und gerieten deshalb Mitte Oktober 1973 in die Schusslinie der Pinochet-Schergen. Weil sie gerade nicht zuhause waren, entgingen sie der Verhaftung und flüchteten in die österreichische Botschaft6.
Wieder zurück in Österreich, fiel der Anfang schwer. Sigrun hat in den Folgejahren die Chilesolidaritätsfront, Christen für Chile und das Hilfskomitee für Nicaragua mitbegründet und sich – gemeinsam mit Herbert – für die Aufnahme und in der Betreuung chilenischer Flüchtlinge engagiert7. Was sie auch von ihren Aufenthalten in Lateinamerika mitgenommen hat, schildert Sigrun 2002 in einem Interview: „Für mich gehört dazu, dass man Überzeugungen und Zielen, die einem wichtig sind, trotz aller Widrigkeiten treu bleiben kann. Glückliches und geglücktes Leben ist nicht dasselbe. Ein geglücktes Leben kann sehr viele Enttäuschungen, Schmerzen, aber auch Freuden beinhalten und muss nicht durchgehend glücklich gewesen sein.“
Eine große Familie
Sigrun hat – auch das hat sie uns erzählt – „nach zwei toten (…) sechs gesunde Kinder geboren“, und ein Bolivianer und ein Chilene wurden adoptiert. Aus diesem Anlass stieß sie wieder auf den ganz alltäglichen Rassismus, gegen den sie sich ihr Leben lang gewehrt hat, es wurde ihnen nämlich gesagt: „Weiße (oder Reiche) adoptieren keinen Indio“. Aus Chile war ihr aus vielen Liedern besonders eines in Erinnerung, das davon sang, schwarze und weiße Hände zusammenzubringen, um eine bessere Welt aufzubauen.
Sigrun hinterlässt eine große Schar von Kindern, Kindeskindern und Urenkel_innen mit deren Familien. Eine große Familie zu haben war ihr immer wichtig und ein, wie sie sagte, „äußeres Zeichen, das beglückt“. „Das Leben ist reich gewesen an Licht und Schatten. Ein langer Weg, barfuß über eine Wiese, Moos und Dornen unter dem Gras. Mein Leben passt zu mir. Vielleicht habe ich meine Kräfte auch manchmal überschätzt, aber solange Zeit ist, Wünsche zu haben, die sich noch erfüllen können, ist es auch eine Zeit der Kraft.“
Kraft geschöpft hat Sigrun bis zuletzt – und bis 2020 gemeinsam mit Herbert – bei ihren Sommeraufenthalten in ihrem Haus in Kienstock an der Donau. Auch dort konnten wir ihre und Herberts Gastfreundschaft genießen: bei spannenden Diskussionen z. B. über die Bücher, die sie gerade gemeinsam gelesen hatten – und Sigrun glücklich inmitten ihres wunderbaren Rosengartens.
Dank ans Leben
Sigruns Zeit auf dieser Erde war am 17. Dezember 2021 zu Ende. Ihr letztes Lebensjahr war gezeichnet von Krankheit und Tod: Im Dezember 2020 starb ihre älteste Tochter Isabella, die Keramikerin, die in den Jahren zuvor ihren Vater Sepp gepflegt hatte, der im März 2021 starb. Im April starb Sigruns zweiter Mann Herbert. Nicht nur das Leid dieser immensen Verluste, auch die vielen Schmerzen machten Sigruns Leben immer mühseliger und ließen sie oft verzweifeln. Ihre Tochter Magdalena umsorgte und pflegte sie bis in die letzten Stunden.
Das berühmte und berührende „Gracias a la vida“ sangen bei der Verabschiedung ihre Söhne und ein Enkel. Dieser Dank ans Leben, das Umarmen des Lebens trotz aller Widrigkeiten, hat Sigruns geglücktes Leben geprägt.
Wir werden dich, liebe Sigrun, immer in liebe- und würdevoller Erinnerung behalten.
Hasta siempre, compañera!
Anmerkungen: 1 Seit 2012 schreibt sich die Organisation mit *, wenn im Text von der Organisation die Rede ist, wird sie noch ohne * geschrieben, weil es sich um die Zeit vor 2012 handelt. // 2 Alle Zitate von Sigrun stammen aus der Zeitschrift Frauensolidarität 1999 und 2001 sowie aus dem Südwind-Magazin 2002. // 3 Frauensolidarität (Hg.): Für dich soll’s rote Rosen regnen. Sigrun zum 70. Geburtstag (2004), S.7. // 4 Für die ORF-Doku „Der Wiener Stephansdom – die Wiedergeburt eines Wahrzeichens“ https://www.youtube.com/watch?v=h0tZfds8NvI wurde Sigrun als Zeitzeugin interviewt. // 5 Details zum Fass inkl. Video mit kurzem Interview von Sigrun: https://www.lenzmoser.at/1000-eimer-fass/ // 6 Näheres dazu: Chile, der Putsch und die Liebe. Ö1 Hörbilder 14.9.2013 https://www.judithbrandner.at/radio/ // 7 Ein Resultat dieses jahrelangen Engagements ist das folgende Buch: Sigrun und Herbert Berger (Hg.): Zerstörte Hoffnung. Gerettetes Leben. Chilenische Flüchtlinge und Österreich (Wien 2002).
Zu den Autorinnen: Ulrike Lunacek, seit 1984 Mitglied und seit 1994 Obfrau der Frauen*solidarität. Von 1995 bis 2020 langjährige Bundes-und Europapolitikerin der Grünen, 2014–2017 Vizepräsidentin des Europaparlaments, 01–05/2020 Staatssekretärin für Kunst und Kultur, heute freiberufliche Autorin und Moderatorin. // Gundi Dick hat von 1992 bis Ende 2000 in der Frauensolidarität gearbeitet. Die Politikwissenschaftlerin ist seither in Österreich und in Ländern des Südens frauen- und entwicklungspolitisch aktiv. // Rosa Zechner arbeitet seit 1993 in der Frauen*solidarität, bis 2019 schwerpunktmäßig in der Bibliothek. Sie ist Historikerin und in verschiedenen feministischen Kontexten aktiv.