Ungewisse Zukunft

Ein Artikel von:
Anita Starosta

Im Dezember 2024 floh der diktatorische Präsident Bashar Al-Assad aus Syrien. Mit dem Ende des Assad-Regimes übernahm die islamistische HTS die Macht. In den Verhandlungen um ein neues Syrien sollten Frauenrechte eine zentrale Rolle spielen.

In den letzten Jahren ist der Alltag im Nordosten Syriens immer beschwerlicher geworden. Seit 2012 steht die Region unter der Kontrolle einer kurdisch dominierten Selbstverwaltung und wird daher von der AKP-Regierung des nördlichen Nachbarn, der Türkei, bekämpft. Diese sieht die Selbstverwaltung als Bedrohung und Hinterhof der ihr verhassten kurdischen Arbeiterpartei PKK. Dennoch gelang es unter widrigen Bedingungen, das demokratische Projekt Rojava, wie es auf Kurdisch genannt wird, zu etablieren. Doch die kontinuierlichen Angriffe der Türkei sind für die dort lebende Bevölkerung und über eine Million intern vertriebener Syrer_innen zermürbend.

Vor etwas mehr als zwei Jahren änderte das türkische Militär seine Strategie und zerstört seither gezielt zivile Infrastruktur wie zentrale Elektrizitätswerke, Ölfelder, Getreidesilos oder Staudämme. Hinzu kommen Drohnenangriffe, über die gezielt Menschen aus der Selbstverwaltung oder dem Militär ermordet und oft auch Zivilist_innen getroffen werden. 2024 hat die Türkei 223 Drohnenangriffe verübt, dabei wurden 107 Menschen getötet und 122 verletzt. Die psychische Belastung der Menschen angesichts der anhaltenden Angriffe ist hoch. Zudem fehlt es an jeglicher Lebensgrundlage, und Besserung ist nicht in Sicht.

Kurze Freude

Seit dem Sturz des diktatorischen Präsidenten Bashar Al-Assad ist die Lage in Rojava noch bedrohlicher geworden. Zwar feierten, wie in ganz Syrien und in der Diaspora, auch die Menschen in Qamislo, Kobanê oder Hasakeh den Sturz von Assad. Doch die Sorge und die Angst vor der Zukunft ließ die Freude nur kurz währen. Denn mit dem Vormarsch der islamistischen Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) konnte die von der Türkei gestützte radikalislamistische Syrische Nationale Armee (SNA) Gebiete dazugewinnen und ihren Einfluss ausbauen.

Seit 2017 kontrolliert die SNA das ehemals kurdische Afrîn und seit 2019 die Region um Serêkaniyê. Hunderttausende flohen damals vor den gewalttätigen Schergen und leben bis heute in Flüchtlingslagern, in der Hoffnung, eines Tages in ihre Häuser und Dörfer zurückkehren zu können. Nachrichten über Greuel erreichten sie dort von denjenigen, die damals nicht flohen. Unter der Kontrolle der Milizen können Frauen ihre Häuser nicht mehr verlassen, es kommt zu Übergriffen und Vergewaltigungen. An den Schulen gilt der türkische Lehrplan, und gezahlt wird mit türkischer Lira.

Die Gefahr ist nicht gebannt

Am 10. Dezember 2024 vertrieben die Milizen der SNA knapp 100.000 Menschen aus der Region Shebha. Flüchtlinge aus Afrîn, die dort Zuflucht gefunden hatten, wurden erneut gewaltsam vertrieben. Berichte von Übergriffen und Entführungen auf der Flucht drangen durch. Hinzu kommt Mitte Dezember die Einnahme der Stadt Manbidsch durch die Milizen und der bis heute anhaltende Beschuss der symbolträchtigen Stadt Kobanê. Der Sieg über DAESH (Islamischer Staat im Irak und der Levante, auch IS) 2014 machte die Stadt weltweit bekannt, heute droht die kurdische Stadt von der Türkei eingenommen zu werden – eine Katastrophe für die Region und ihre Bevölkerung.

Damals gingen vor allem die Bilder der mutigen Frauenverteidigungseinheiten YPJ um die Welt, die bis heute einen wesentlichen Anteil daran haben, DAESH zu bekämpfen, und die in der Region für Sicherheit und Stabilität sorgen. Bis heute sind tausende DAESH-Kämpfer inhaftiert, ihre Frauen und Kinder in geschlossenen Lagern festgehalten – eine tickende Zeitbombe. Die Gefahr ist keineswegs gebannt.

Rojava: ein demokratisches Projekt

Rojava ist dafür bekannt, viel Wert auf Gleichberechtigung, Frauen- und Minderheitenrechte zu legen. Dies wird beispielsweise über ein paritätisches System in allen Ämtern durchgesetzt. Auch gibt es viele Bemühungen, Frauenrechte zu stärken, Zufluchtsorte für Frauen zu schaffen, die (sexualisierte) Gewalt erleben, oder Empowerment Kurse anzubieten – in einer stark patriarchal geprägten Gesellschaft kein einfaches Vorhaben. Veränderung braucht Zeit.

Die Beteiligung der ethnischen und religiösen Minderheiten ist ebenfalls ein Grundpfeiler, mit der ein friedliches Zusammenleben auf Augenhöhe in der Gesellschaft gelingen soll. So haben die Jesid_innen, Assyrer_innen, Turkmen_innen und arabischen Stämme eigene Vertretungen und politische Positionen in der Selbstverwaltung: ein multiethnischer Ansatz, der in Teilen auch für das neue Syrien Vorbild sein könnte. Denn daran werden sich die neuen Machthaber der HTS in Damaskus messen lassen müssen: Wird es gelingen, dieses historisch multiethnisch und kulturell diverse Land nach demokratischen Prinzipien zu regieren?

Ein langer Weg

Hoffnung gibt eine kritische Zivilgesellschaft, die auch während der grausamsten Zeiten des syrischen Krieges seit 2011 nicht aufgehört hat, sich zu organisieren und in der Diaspora zu vernetzen. Unter ihnen auch Frauen, die sich bereits unter der HTS in Idlib, im Nordwesten Syriens, für ihre Rechte eingesetzt haben. Beispielsweise die Mitarbeiterinnen des Frauenzentrums Women Support and Empowerment Center in Idlib-Stadt. Ursprünglich in Douma, Ost-Ghouta gegründet, wurde das Zentrum nach der Vertreibung der Mitarbeiterinnen 2018 in Idlib neu eröffnet. Seitdem ist es das wichtigste Frauenzentrum in der Stadt, obwohl es immer wieder Bedrohungen und Repressionen durch die lokalen Autoritäten der HTS ausgesetzt war.

Auch wenn sie nun nicht mehr in Idlib bleiben müssen, wollen die Frauen ihr Zentrum dort weiterführen. Gerade weil eine Rückkehr für die meisten Frauen aufgrund der Zerstörung ihrer Herkunftsorte durch Bombardierungen und Plünderungen noch keine Option ist. Und ihnen geht es um mehr: sie wollen ein Konzept entwickeln, das die gesamte Gesellschaft anspricht – mit Angeboten zu politischer Aufklärung, Selbstermächtigung und Dialog. Auch das ein langer Weg. Aber sie glauben an ein demokratisches Syrien mit starken Frauen.

Selbstbestimmung, Rechenschaftspflicht und Gerechtigkeit sind wichtige Leitplanken der syrischen Zivilgesellschaft, die politisch mitbestimmen und ein tatsächlich demokratisches Syrien gestalten möchte. Unklar ist, welchen Platz die autonome Selbstverwaltung im Nordosten in diesem neuen Syrien einnehmen wird und ob ein föderales Syrien möglich ist, in dem es die gewonnene Autonomie behalten kann und die Türkei endlich ihre Angriffe einstellt. Es ist schwer zu sagen, wie Syrien sich weiterentwickeln wird. Sicher ist nur, dass es um gleiche Rechte für alle gehen muss. Anders hat ein freies Syrien keine Chance auf eine demokratische Zukunft.

Zur Autorin: Anita Starosta ist Referentin für Syrien, Türkei, Irak bei medico international. Sie bereist die Region regelmäßig und betreut die Projekte in der Öffentlichkeitsarbeit. Medico international ist eine Hilfs- und Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Frankfurt, die seit über zehn Jahren Partner_innen in Nordostsyrien unterstützt.