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Foto: (c) Carlos Saavedra

Wir gebären keine Kinder für den Krieg

Ein Artikel von:
Marcela Torres Heredia

Die Madres de los Falsos Positivos de Soacha (MAFAPO) machten im vergangenen Herbst mit einer Reise durch Europa auf die Verbrechen aufmerksam, die der kolumbianische Staat an ihren Familienangehörigen begangen hat.

Im Jahr 2021 enthüllte das Sondergericht für den Frieden in Kolumbien eine erschreckende Zahl: zwischen 2002 und 2008, während der ersten Amtszeit des ehemaligen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez, habe die kolumbianische Armee mindestens 6.402 Menschen im Rahmen sogenannterFalsos Positivos oder außergerichtlicher Hinrichtungen ermordet. Dieses landesweite System hat zum Tod von unschuldigen Zivilisten geführt, die von Soldaten der kolumbianischen Streitkräfte als Guerillakämpfer ausgegeben wurden, um den Erfolg im Kampf gegen die linke Guerillabewegung FARC unter Beweis zu stellen. Innerhalb der Armee wurden Beförderungen oder Sonderurlaube für die Tötung von Guerilleros in Aussicht gestellt. Der Verbleib dieser Opfer ist weitgehend unbekannt.

Mütter, die nicht mehr schweigen

Rubiela Giraldo ist alleinerziehende Mutter. Sie lebt in Soacha, einer Gemeinde im Großraum Bogotá. Ihr Sohn Diego Armando Marín Giraldo, ein 21-jähriger junger Mann, hatte gerade seinen Militärdienst beendet. Er verschwand im Februar 2008. Nach achtmonatiger Suche fand man seine Leiche in Ocaña, 635 km entfernt, nahe der venezolanischen Grenze. Er sei ein Guerillero gewesen, der im Kampf ums Leben gekommen sei, hieß es. Doch wenn er gerade die Armee verlassen hatte, seit wann soll er ein Guerillero gewesen sein? Und was war der Grund für seinen Tod?
Zuerst dachte Rubiela, ihr Sohn sei ein Einzelfall. Doch Ende 2008 hörte sie von weiteren Müttern, die ähnliche Geschichten berichteten. Schnell erkannte sie, dass 19 Familien in Soacha von der gleichen Tragödie betroffen waren. Sie traf ihre spätere Mitstreiterin Jacqueline Castillo, die ihren verschwundenen Bruder suchte und dessen Leiche ebenfalls in Ocaña gefunden wurde. Diese Begegnung der Betroffenen gab den Startschuss für die Organisation MAFAPO: „Es war schrecklich für uns, als wir erkannten, dass dieses Verbrechen durch die Hände der kolumbianischen Nationalarmee geschah“, erinnert sich Rubiela. Die Erkenntnis führte sie zu einer Entscheidung: „Wir waren an einem Punkt angelangt, an dem wir nicht mehr schweigen konnten, wir wussten, dass dies ein sehr gefährlicher Kampf sein würde, weil er sich gegen den Staat richtete“.

Tour gegen das Vergessen

Seit 15 Jahren organisieren sich die Mütter, Schwestern, Töchter und Ehefrauen der gewaltsam Verschwundenen. Die Antwort auf die Frage, was sie antreibe, beantwortet Rubiela ohne Zögern: „Wir wollen, dass die Wahrheit herauskommt, dass Gerechtigkeit herrscht und dass sich die Geschehnisse nicht wiederholen. Vor allem wollen wir die Wahrheit. Wir haben mit der Suche begonnen, und wir müssen wissen, wer der Auftraggeber all dieser Verbrechen war.“ „Unser Leben ist ein Kampf gegen das Vergessen“, fügt Jacqueline hinzu. Es ist eine öffentliche Anklage, um das System, in dem die Streitkräfte operiert haben, aufzudecken und zu zerschlagen.
2023 tourten die Zwei durch acht europäische Länder mit dem Ziel diese systematische Praxis des kolumbianischen Staates nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und deutlich zu machen, „dass dies keine Lüge war und dass wir, die Opfer, die Wahrheit gesagt haben“, so Rubiela. Ein weiteres Ziel der Reise ist die Suche nach technischer Unterstützung, um den Prozess der Identifikation der gefundenen Leichen zu verbessern und zu beschleunigen.
An der laufenden Aufklärungsarbeit sind in Kolumbien elf Frauen der Organisation MAFAPO beteiligt. Immer wieder werden sie in Schulen und an Universitäten eingeladen. Dort geben sie Workshops und erzählen ihre Geschichte. Bei ihren Besuchen stellen sie fest, wie wichtig diese Erinnerungsarbeit ist. Denn viele junge Menschen kennen die Geschehnisse der außergerichtlichen Hinrichtungen in Kolumbien nicht.

Wer gab den Befehl?

Es ist ein bittersüßer Prozess, um die Wahrheit zu ringen. Einige Siege waren überaus wichtig. So wurde im Abschlussbericht der kolumbianischen Wahrheitskommission, die im Zuge des Friedensprozesses zwischen der FARC Guerrilla und der kolumbianischen Regierung 2017 installiert wurde, endgültig bestätigt, dass es sich bei den „Falsos Positivos“ um Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte, die der kolumbianische Staat finanziert hat und von der Armee ausgeführt wurden. Das System existiert mindestens seit den 1980er Jahren. Im April 2022 gaben angeklagte Militärs zu, dass es sich bei den ermordeten Jugendlichen von Soacha nicht um Guerilleros gehandelt habe. Damit waren die unschuldigen Opfer endgültig von jedem Verdacht befreit.
Allerdings gibt es gravierende Einschränkungen bei den durchgeführten Aufklärungs- und Gerichtsverfahren. Seit Beginn des Friedensprozesses kamen keine neuen Fälle zur Untersuchung hinzu. Lediglich Fälle, die bereits vor dem Beginn des Friedensprozesses verhandelt wurden, wurden von dem Sondergericht für den Frieden übernommen. Außerdem beunruhigend sind die begrenzten Fortschritte bei der Identifizierung derjenigen, die Hinrichtungsbefehle erteilt haben: „Wir sind bei den Soldaten der unteren und mittleren Ränge stehen geblieben und nicht bis zu den Generälen vorgedrungen. Wir wissen, dass die Befehle von ganz oben kamen“, sagt Jacqueline Castillo.

Den Schmerz verwandeln

Der Kampf gegen das Vergessen ist nicht nur ein Kampf gegen eine Gesellschaft des Kurzzeitgedächtnisses, gegen ein Justizsystem, das die Straflosigkeit aufrechterhält, und gegen die Bedrohung des eigenen Lebens aufgrund der eigenen unermüdlichen Arbeit. Er bedeutet auch, sich der schweren Last des eigenen Leidens zu stellen: „Der Schmerz, den wir tragen, ist sehr groß, und wir werden mit diesem Schmerz sterben, das ist etwas, das sich einfach nicht beschreiben lässt“, sagt Rubiela.
Die Kunst ist für die Mütter ein Mittel, ihre persönlichen Erfahrungen zu verarbeiten, wie Rubiela sagt: „Die Kunst war sehr wichtig für uns, weil wir viel Heilung erfahren haben. Ich persönlich habe meine Heilung durch die Kunst erfahren, nicht durch Psychologen.“ Durch die Zusammenarbeit mit verschiedenen Künstler_innen und Kollektiven ergaben sich Webarbeiten in Zusammenarbeit mit den Weberinnen von Mampuján, großformatige Wandmalereien, das Buch „Madres Terra“ gemeinsam mit dem Fotografen Carlos Saavedra, bis hin zu Theaterstücken, Filmen und Dokumentationen. „Ich habe mich auf diese Weise befreit, und meine Mitstreiterinnen, fast alle von uns, haben sich auf diese Weise befreit“, sagt Rubiela.

Zur Autorin: Marcela Torres Heredia ist Wissenschaftlerin, Aktivistin und Vermittlerin Feminismen des Südens, Dekolonialität und feministische politische Ökologie.