Artikelbild
Foto: (c) Ashwin Sharma

Notunterkünfte sind nur ein Anfang

Ein Artikel von:
Pragati K.B.

Weibliche Obdachlosigkeit in Indien

Indiens Regierung setzt im Kampf gegen Obdachlosigkeit auf Notunterkünfte und Wohnbauprogramme, die jedoch gerade jene ausschließen, die sie am dringendsten brauchen. Häusliche Gewalt ist eine der Hauptursachen für die Obdachlosigkeit von Frauen. Dagegen braucht es Prävention und besondere Unterstützungsmaßnahmen.

In einem behelfsmäßigen Planenzelt auf einem Gehweg in Süd-Delhi gegenüber dem Sai-Baba-Tempel an der Lodhi International Road lebt Muskan mit ihrem Mann und zwei Kindern. Das Zelt, auf der einen Seite von einer Hauswand gestützt und mit Ziegeln und Betonblöcken am Boden befestigt, bietet kaum Platz für zwei Personen. Muskan, die als Kinderbraut aus Uttar Pradesh nach Delhi gekommen ist, führt ein aufgrund ihres Geschlechts und ihrer Klasse besonders gefährdetes und prekäres Leben auf der Straße. Laut der Volkszählung von 2011 gibt es in Indien über 1,77 Mio. Obdachlose. Davon sind 700.000 Frauen, wie Muskan.
Zwei Jahrzehnte zuvor schätzte ActionAid India die Gesamtzahl der Obdachlosen im Land auf 78 Mio. davon etwa 4,7 % oder 3,6 Mio. Frauen. Im Jahr 2008 bezifferte eine Studie der Indo-Global Social Service Society (IGSSS) die Zahl der Obdachlosen allein in der Hauptstadt Delhi auf 88 410 Personen. Dabei wird davon ausgegangen, dass für jede gezählte obdachlose Person mindestens eine weitere Person nicht erfasst worden ist, weil sie gerade bei der Arbeit war, vorübergehend eine Unterkunft gefunden oder den Ort gewechselt hatte.

Definition von Obdachlosigkeit

Für die Volkszählung wurden Personen als obdachlos definiert, die nicht im registrierten Häuserbestand oder Strukturen „mit einem Dach“ leben. Dazu gehören all jene, die „auf offener Straße, auf Gehwegen, in Abluftrohren, unter Überführungen und Treppen oder Gebetsstätten, Säulenhallen, Bahnsteigen usw.“ leben. Mit dieser Definition lassen sich zwar Zahlen erheben, sie greift aber zu kurz, wenn es darum geht, das Problem in seinen unterschiedlichen Dimensionen zu erfassen und umfassend zu bekämpfen. Diese Definition hat die Regierung darin bestärkt, Obdachlosigkeit als ein Problem zu betrachten, welches durch die Errichtung von weiteren Unterkünften gelöst werden kann.
Delhi ist eine Stadt, in der es von staatlichen und von NGOs betriebenen Notunterkünften nur so wimmelt. Diese sind jedoch nur eine provisorische Lösung. Solange die zugrundeliegenden Ursachen von Obdachlosigkeit – insbesondere Armut, Arbeitslosigkeit, Flucht und Vertreibung, Gewalt oder Zwangsräumungen – nicht direkt angegangen werden, reicht das Errichten von Unterkünften nicht aus. Vor allem deswegen, weil Notunterkünfte und staatliche Wohnbauprogramme nicht für alle zugänglich sind.

Fehlende Dokumente als Zugangshürde

Warum bleiben Frauen wie Muskan auf der Straße, anstatt in eine Notunterkunft zu gehen? Die Voraussetzung für die Aufnahme in eine Notunterkunft ist eine sogenannte Aadhaar-Karte, ein nationales biometrisches Identitätsdokument. Um eine Aadhaar-Karte zu erhalten, müssen andere Ausweisdokumente wie Geburtsurkunde, Wählerausweis oder Stromrechnungen vorgelegt werden. Für Muskan, die über keines dieser Dokumente verfügt, ist eine Notunterkunft daher unerreichbar. „Selbst wenn ich tageweise Arbeit als Putzhilfe suche, werde ich aufgefordert, meine Aadhaar-Karte vorzuzeigen“, erzählte mir Muskan.
In seinem Buch „Understanding Homelessness“ arbeitet P. Somerville die verschiedenen Dimensionen von Mangel heraus, die Obdachlosigkeit ausmachen. Über das bloße Fehlen einer Unterkunft hinaus sind dies folgende Entbehrungen:„Physiologische (Mangel an körperlichem Komfort oder Wärme), emotionale (Mangel an Liebe oder Freude), territoriale (Mangel an Privatsphäre), ontologische (Mangel an Verwurzelung in der Welt, Anomie) und spirituelle (Mangel an Hoffnung, Mangel an Sinn).“ Ein starker Lösungsansatz für das Problem der Obdachlosigkeit muss sich daher mit den strukturellen Problemen auseinandersetzen.
Der Bericht „Survivor Speak – Call For Action From Five States“ der feministischen Organisation Jagori aus dem Jahr 2019 hält fest, dass häusliche Gewalt in der Ehe eine der Hauptursachen für die Obdachlosigkeit von Frauen ist. Frauen, die ihr Zuhause aufgrund von Gewalt verlassen, laufen Gefahr, obdachlos und infolgedessen Opfer weiterer Misshandlungen zu werden. Die Angst vor Obdachlosigkeit hält Frauen nicht nur davon ab, gefährliche und missbräuchliche Situationen zu verlassen, sondern zwingt sie oft auch dazu, wieder in diese zurückzukehren.

Prävention und Opferfürsorge

Die International Foundation for Crime Prevention and Victim Care (PCVC) in Chennai, Tamil Nadu, arbeitet mit einem ganzheitlichen Ansatz an der Bekämpfung von Obdachlosigkeit bei Frauen. Notunterkünfte zur Verfügung zu stellen ist dabei nur der Anfang eines Rehabilitationsprozesses für Überlebende häuslicher Gewalt. Die Gründerin der Organisation, Dr. Prasanna Gettu, entwickelte 2001 ein breites Angebot an rechtlichen, medizinischen, beratenden und psychosozialen Unterstützungsmaßnahmen, um zu verhindern, dass Frauen auf der Straße landen oder in gewalttätige Situationen zurückkehren. In den meisten Fällen werden Frauen, die bei PCVC Unterstützung suchen, von ihren Kindern begleitet. Um diesen Kindern zu helfen, startete PCVC Smiles, ein Interventionsprogramm, das pädagogische und emotionale Unterstützung bietet.
PCVC betreibt eine weitere Unterkunft ausschließlich für Opfer von Verbrennungen. Die Mitarbeiter_innen von PCVC versorgen die Überlebenden in der Verbrennungsstation mit eiweißhaltiger Nahrung, Einwegkleidern und -laken sowie psychologischer Hilfe. Wundpflege und Hygiene sind entscheidend für das Überleben der Patient_innen, auch nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen werden. Die Pflegenden werden daher auch besonders in der Nachsorge geschult, Sozialarbeiter_innen machen Hausbesuche, um sicherzustellen, dass die betroffenen Frauen angemessen betreut werden.
Um die Polizei für das Problem der häuslichen Gewalt zu sensibilieren, hat PCVC Projekte wie Udhayam geschaffen. In einer koordinierten Aktionsstrategie bei Frauennotrufen arbeitet die Organisation in Chennai mit lokalen, rein mit Frauen besetzten Polizeistationen in Chennai zusammen. PCVC verfügt über eine gebührenfreie 24-Stunden-Krisenhotline, welche von geschulten Berater_innen betrieben wird, die in Notfällen mit sofortigen Schutzmaßnahmen, Kontaktaufnahme mit der Polizei und bei der Weitervermittlung an rechtliche oder medizinische Angebote unterstützen.
Wie die Beispiele zeigen, können politische Maßnahmen zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit von Frauen daher nicht mit einem reduktionistischen Verständnis von Obdachlosigkeit als Wohnungsproblem arbeiten. Neben dem Errichten von Wohnungen müssen auch Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen, geschlechtergerechte Justiz und Strafverfolgung einzurichten und Opfern von häuslicher Gewalt soziale, ökonomische und psychologische Unterstützung zu bieten. Nur so kann ein positiver Wandel möglich werden.

Zur Autorin: Pragati K. B. ist eine unabhängige Journalistin und Forscherin in Bengaluru, Indien.

Übersetzung aus dem Englischen: Lenja Koch und Bernadette Schönangerer

Weitere Artikel aus dem Thema