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„Wir schreiben uns unsere Geschichte-n selbst“

Ein Artikel von:
Ishraga Mustafa Hamid

Als das Ergebnis von drei Schreibwerkstätten hat Ishraga Mustafa Hamid zwei Bücher herausgebracht. Im Oktober 2020 hat sie das Netzwerk Arts of banat Mendy1 gegründet, um Projekte von kulturschaffenden Migrantinnen umzusetzen. 90 % von ihnen sind geflüchtet und sprechen Arabisch als erste oder zweite Sprache. Betitelt wurden die Schreibwerkstätten: „Wir schreiben uns unsere Geschichte-n selbst“, und sie standen unter dem Motto: „Wir schreiben, um uns zu heilen“.2

Kurdinnen aus Syrien und Sudanesinnen schalteten sich von Österreich, Deutschland und den Niederlanden bei der ersten Schreibwerkstatt online zu. Das Ergebnis war das Buch „Noon Al Manfa – Das Weibliche des Exils“, das im Verlag Elreem erschien. Als Frucht der zweiten Schreibwerkstatt mit Eritreerinnen, Sudanesinnen aus England, Frankreich, Kanada und Australien entstand der Text „Sudariat, Gwhwa fi zakrat elmanafi – Kaffee im Gedächtnis des Exils“, der im Verlag Tarabeel im Sudan erschien und in Kooperation mit dem Network of Eritrean Women UK am 24. September 2022 in London präsentiert wurde.

Das dritte Buch, „Unsere Geschichte – Flügel über die Grenzen“, wird Anfang 2023 auf Arabisch herauskommen. Darin haben 15 Frauen ihre Migrations- bzw. Fluchtgeschichte festgehalten. Sie kommen aus dem Sudan, Syrien, Ägypten, Kurdistan, Irak, und Eritrea und leben zurzeit in Österreich, Deutschland, Schweden und Saudi-Arabien. An der vierten Schreibwerkstatt unter dem Titel „Unsere Großmütter sind der Reichtum unseres Gedächtnisses“ nahmen überwiegend geflüchtete Frauen aus Syrien, Sudan, Eritrea, Ägypten, aber auch aus anderen Ländern wie Saudi-Arabien, Palästina, Jemen, Irak, Libanon und Libyen teil.

Warum Schreibwerkstätten?

Vernetzung ist ein wichtiges Ziel der Workshops von Mendy. Schreibwerkstätten geben Raum für biographisches Schreiben der Frauen, die über ihre eigenen Flucht- bzw. Migrationserfahrungen Texte verfassen, und in der Gruppe vorlesen. Hier ist auch Platz für Gefühle, denn viele von ihnen haben dabei geweint. Gemeinsam diskutieren sie über ihre Texte und verbessern sie durch die Inputs, die sie von den anderen bekommen. Im Zuge dessen wurden auch Konzepte diskutiert, wie z. B. Alltagsdiskriminierungen in Europa wie auch in anderen Regionen, aber auch Themen wie Solidarität unter Frauen, Diversität, Schönheit, Krieg, Flucht und Vernetzung.

Unser Motto ist: „Wir schreiben, um uns zu heilen“. Migrantinnen, vor allem geflüchtete Frauen, haben viele traumatische Erfahrungen gemacht, die anhand ihres autobiographischen Schreibens in den erschienenen Anthologien sichtbar werden. Gesellschaftlich werden Migrantinnen oft nur als Zahlen gesehen. Daher ist es unser Hauptziel, die Geschichten lesbar und ihre Stimmen hörbar zu machen.

Mehrere Teilnehmerinnen haben diese Workshops wie eine Therapie empfunden, da sie dabei viele Erlebnisse verarbeiten konnten. Egal ob sie über ihre Geschichten, über die Zeit im Exil oder über die Flucht schrieben, ihre Geschichten wurden gemeinsam mit den anderen bearbeitet. Gemeinsam haben sie salzige Tränen geweint, die irgendwann im Meer münden werden, wo einige von ihren Freundinnen und ihren Verwandten ertrunken sind. Die Frauen haben aber auch viel gelacht, sehr viel diskutiert und sich gegenseitig bestärkt. Sie haben Erfahrungen ausgetauscht, Perspektiven bearbeitet und Visionen für die Zukunft eröffnet.

Warum Übersetzung?

Es gibt wenig Wissen über die Biographien von Migrantinnen. Besonders wenig Wissen gibt es zu geflüchteten Frauen aus dem Sudan, Eritrea und Syrien, insbesondere zu Kurdinnen. Um diesen Wissensmangel auszugleichen, sind Übersetzungen notwendig. Die Frauen schildern nicht nur ihre eigenen Erfahrungen mit den diktatorischen Regimes und der Gewalt zu Hause oder auf der Flucht, sondern auch die vielfältigen Probleme in der Aufnahmegesellschaft. Ihre Geschichten reflektieren die gesellschaftlichen Machtstrukturen.

Die Übersetzungen dieser Anthologien sollen andere Migrantinnen, vor allem Geflüchtete motivieren zu schreiben, um sich selbst zu heilen. Ihre Stimmen werden so lauter und hörbar gemacht.

Durch die Geschichten werden außerdem viele Fragen aufgeworfen. Die Frauen beschäftigen sich mit den unterschiedlichsten Themen wie Rekrutierung zum Militär in Eritrea oder sexuelle Gewalt des Islamischen Staats in Syrien, in den „Flüchtlingslagern“ und durch die Schlepper.

Sehen die Frauen Migration als Chance für Emanzipation?

Das Thema der Dominanz des martialischen Blicks und des entsprechenden Denkens wurde in den Anthologien behandelt. Die Frauen haben in ihren Geschichten die Wirkung der Migration auf das kritische Bewusstsein, auf Denken und Handeln, auf ihre Rolle als Frau bzw. ihre Rolle als Diaspora-Frauen in der Solidarität mit den Frauen in ihren jeweiligen Herkunftsländern thematisiert.

Im Rahmen von Workshops, die Teil der Schreibwerkstätten waren, ging es um diskriminierungssensibles Sprechen, vor allem im Arabischen. Diskutiert wurden Feminismen und die Macht der Sprache(n) in der Migration und in den jeweiligen Herkunfts- und Aufnahmeländern. So dürfen z. B. die Kurdinnen in Syrien nicht in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Die Frauen erzählen Geschichten, welche diese Machtverhältnisse reflektieren. Selbstzensur bzw. gesellschaftliche Zensur wurden auch Mittelpunkt des Schreibens. Ausgehend von ihren Lebensrealitäten, zeigen ihre Geschichten, wie vielfältig und unterschiedlich die Frauen sind.

Diese Anthologien werden ins Deutsche übertragen werden, um zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der europäischen Politik beizutragen.

Anmerkungen: 1 Mendy bint Alsultan Agabna war eine Sudanesin aus den Nubabergen, die mutig gegen den britischen Kolonialismus gekämpft hat. Sie wird in der sudanesischen Geschichte nie erwähnt. Ihren Namen in den Vereinstitel zu integrieren zielt darauf ab, alle vergessenen Frauen dieser Welt sichtbar zu machen. // 2 Die erste Schreibwerkstatt fand vor Ort in Kooperation mit ISOP – Graz 2020–2021 statt. Die bearbeiteten Texte habe ich ins Arabische übersetzt und in beiden Sprachen „Arabisch und Deutsch“ in Wörter und Welten, 04/2021 veröffentlicht. https://www.wordsandworldsmagazine.com/ 

Zur Autorin: Ishraga Mustafa Hamid ist eine österreichische Schriftstellerin, Übersetzerin, Politikwissenschaftlerin und freie Journalistin sudanesischer Herkunft.

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