Noch immer gibt es in Österreich Fälle von Zwangssterilisation und -verhütung bei Menschen mit Behinderungen. Wer ist davon besonders betroffen und welche Strukturen begünstigen solche Eingriffe in die körperliche Integrität?
Frauen und Mädchen mit einem Intelligenzquotienten unter 85 sollten sich nicht fortpflanzen. So lautete das vernichtende Urteil des inzwischen verstorbenen Kinderarztes und ehemaligem NSDAP-Mitglieds Andreas Rett, der bis Ende der 1980er Jahre unzählige Frauen und Mädchen mit Behinderungen – meist ohne deren Wissen – sterilisierte.
Doch inzwischen sollten Zwangssterilisationen längst Geschichte sein. Sie verstoßen gegen eine Reihe von Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention und stehen seit 2001 im Strafgesetzbuch (§ 90). Bei nicht entscheidungsfähigen Erwachsenen muss eine Sterilisation gerichtlich genehmigt werden. Doch Schattenberichte zur UN-Staatenprüfung der Behindertenrechtskonvention 2023 zeichnen ein anderes Bild.
Was man weiß
„Auch wenn Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderungen in Österreich strafbar ist, vermuten wir eine hohe Dunkelziffer, die jedenfalls über Einzelfälle hinausgeht“, erklärt Daniela Rammel vom Unabhängigen Monitoringausschuss. Genaue Zahlen fehlen, jedoch taucht das Thema immer wieder in unterschiedlichen Beratungskontexten für Menschen mit Behinderungen auf. Eine Studie des Sozialministeriums zu Gewalterfahrungen in Behinderteneinrichtungen von 2019 gibt Einblicke: Vor allem Frauen (17 % der Befragten) berichten von Sterilisationen, Männer seltener (6 %). Nur fünf der 28 betroffenen Personen wollten den Eingriff.
Häufig wurde der Eingriff von Eltern, Betreuer_innen oder Ärzt_innen nahegelegt, zwei Personen sprachen von Zwang. Das deckt sich mit den Erfahrungen von Unterstützungsvereinen. Die typische Betroffene ist eine Frau mit Lernschwierigkeiten, die in einer Behinderteneinrichtung lebt oder arbeitet. Ziel der Zwangssterilisationen: Verhinderung (ungewollter) Schwangerschaften. Wie unfreiwillige Sterilisationen heute noch stattfinden, sollen zwei Szenarien veranschaulichen.
Fall 1: Fragwürdige psychiatrische
Gutachten
Menschen mit Lernschwierigkeiten gelten oft als nicht entscheidungsfähig. Dann entscheidet eine Erwachsenenvertretung, häufig Eltern oder Externe, für sie. Wollen diese eine Sterilisation, muss ein Gericht zustimmen, wofür zwei unabhängige Gutachten zur Überprüfung der Entscheidungsfähigkeit und der körperlichen Situation erforderlich sind. Die betroffene Person erhält einen parteilichen Rechtsbeistand von einem Erwachsenenschutz-Verein. Der Verein VertretungsNetz vertritt solche Fälle und versucht herauszufinden, was die Person wirklich will. Laut Martin Marlovits, stellvertretender Leiter Fachbereich Erwachsenenvertretung, sei bislang noch in keinem der vertretenen Fälle eine Sterilisation genehmigt worden, insofern zeige das Gesetz Wirkung. Allerdings kritisiert Marlovits die Qualität der psychiatrischen Gutachten zur Überprüfung der Entscheidungsfähigkeit: „Vielen Psychiater_innen fehlen Kenntnisse über kognitive Behinderungen. Sie nehmen sich kaum Zeit, stufen zu schnell als entscheidungsunfähig ein und schreiben Gutachten, die oft nach copy-and-paste aussehen“. Immer wieder habe er in den Gutachten Namen anderer Klient_innen gefunden, die man wohl beim Kopieren übersehen hatte. Gerade hier ist der Rechtsbeistand wichtig. Marlovits vermutet allerdings, dass nur die Spitze des Eisbergs vor Gericht landet: „Ich glaube, dass viele Ärzt_innen das Gesetz nicht kennen und auf Wunsch der Eltern Sterilisationen vornehmen, ohne das Gericht einzuschalten.“
Fall 2: Abhängigkeiten und Druck
Wer rechtlich entscheidungsfähig ist, kann sich theoretisch selbstbestimmt für eine Sterilisation entscheiden. Trotzdem kann das unfreiwillig passieren, z. B. wenn Eltern oder Ärzt_innen Druck ausüben. Gerade Frauen mit Lernschwierigkeiten sind häufig ein Leben lang ökonomisch von ihren Familienangehörigen abhängig. Sollten Eltern etwa mit einem Rauswurf drohen, wenn sich die Tochter einer Sterilisation widersetzt, hätte das existentielle Folgen für diese. Dass gerade besorgte Eltern oft auf eine Sterilisation ihrer Tochter drängen, erlebt auch die Gynäkologin Daniela Dörfler. In der Krisenambulanz des Wiener AKH behandelt sie Patientinnen, deren Betreuung zeitintensiver ist und die deshalb im niedergelassenen Bereich oft nicht versorgt werden. Der Klassiker: Eine Mutter kommt mit ihrer Tochter mit Lernschwierigkeiten, die in ihrer Werkstatt jetzt einen Freund hat. „Gerade bei schweren Regelblutungen habe ich von Angehörigen schon gehört: ‚Machen wir doch einfach alles weg‘“, erzählt sie. Dörfler klärt dann über die rechtliche Lage auf und versucht in Abstimmung mit der Frau eine passende Alternative zu finden. „Die meisten können schon verbalisieren, was sie wollen, man muss sich eben Zeit nehmen“, sagt sie. Beratung in Leichter Sprache sowie ein Herantasten in Etappen an die eigentliche gynäkologische Untersuchung sind wichtige Maßnahmen, um die körperliche Integrität von Frauen mit Lernschwierigkeiten zu wahren.
Historische Kontinuität
Verletzungen der körperlichen Integrität im medizinischen Kontext zählen zu den Dauerbrennern in der Beratung. Bei der ungefragten Verabreichung von Verhütungsmitteln sei das nicht anders, bestätigt Marlovits. Laut einer Erhebung der Volksanwaltschaft1 ist Empfängnisverhütung in 20 % der geprüften Behinderteneinrichtungen noch immer nicht selbstbestimmt möglich. „Die gesellschaftliche Grundhaltung herrscht vor, dass Zwangsverhütung oder Zwangssterilisation die einfachste und beste ‚Lösung‘ für das Thema Sexualität und Kinderwunsch für viele Menschen mit Behinderungen sei. Das ist in keiner Weise im Einklang mit der UNBehindertenrechtskonvention“, sagt Daniela Rammel vom Monitoringausschuss. Dabei pflegen viele betroffene Frauen nicht mal Sexualkontakte, was auch an den vielen Barrieren in Einrichtungen liegen kann. Gerade Heimbewohner_ innen können ihre Sexualität kaum ausleben, hat die Volksanwaltschaft in der Studie festgestellt. In 51 % der geprüften Einrichtungen sind Übernachtungsbesuche externen Personen nicht möglich. Sexualassistenz wird nur in 57 % der Einrichtungen ermöglicht. Die Behindertenanwältin Christine Steger nennt das „Unterbindung der Sexualität“, wenn Frauen mit Behinderung nicht das Leben einer Erwachsenen führen dürfen, obwohl sie es dem Alter nach schon lange sind: keine Partnerschaft, kein Sex, keine Kinder. Und keine sexuelle Aufklärung – dabei wäre das eine gewaltpräventive Maßnahme. „Sterilisation und Zwangsverhütung scheinen praktisch, um behinderte Menschen verwaltbar zu machen“, sagt Steger. Auch kapitalistische Produktionslogiken spielen eine Rolle. „Die Kosten der Versorgung behinderter Menschen haben schon die Nazis hervorgehoben und sind bis heute Thema“, ergänzt sie. Als Bundesvorsitzende des KZ-Verbandes ist es ihr wichtig, reproduktive Kontrolle als historische Kontinuität zu begreifen: „Ärzte wie Andreas Rett und ihre eugenische Haltung zur Frage, wer sich fortpflanzen darf und wer nicht, ist bis heute nicht ausreichend aufgearbeitet.“
Anmerkung: 1 Prüfschwerpunkt: Sexuelle Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen, Volksanwaltschaft
Zur Autorin: Eva Rottensteiner ist freie Journalistin und studiert Politikwissenschaft und Gender Studies. Sie engagiert sich politisch in Selbstvertretungsgruppen für Frauen mit Behinderungen.