Die Massenproteste gegen das Regime in Belarus im Jahr 2020 waren von Frauen getragen. Fürsorge spielte dabei eine wichtige Rolle und ist heute Teil des anhaltenden „fragilen Widerstandes“ von politisch inhaftierten belarussischen Frauen.
Im Juni 2023 sagte ein ehemaliger belarussischer politischer Gefangener, der seinen Namen nicht nennen wollte, in einem Interview: „Im Allgemeinen sind die Mädchen in den Untersuchungsgefängnissen die coolsten, sie kämpfen für ihre Rechte, und nicht nur für ihre eigenen.“ Nach Angaben der belarussischen Menschenrechtsorganisationen Dissidentby gibt es derzeit 1 401 politische Gefangene in Belarus. Mehr als 2 000 Personen haben den Status ehemaliger politischer Gefangener. Die politischen Repressionen als Reaktion des Regimes auf die Massenproteste im Sommer und Herbst 2020 halten bis heute an.
Gefälschter Wahlausgang
Auslöser der Proteste war die Fälschung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020. Bereits am Vorabend der Wahlen gingen Hunderttausende zu Kundgebungen der alternativen Kandidat_innen. Nach der Wahl war die Gesellschaft empört über die Gewalt, die Lukaschenko gegen alle jene entfesselte, die sich nicht mit deren Fälschung abfinden wollten. Nach Angaben der belarussischen Menschenrechtsorganisation Viasna wurden seither mehr als 74 000 Fälle von Repressionen gegen Aktivist_innen, etwa Hausdurchsuchungen, Inhaftierungen und Verhöre, registriert. Zu den politischen Gefangenen gehören Menschen jeden Alters und jeder sozialen Gruppe, aber Frauen sind ein besonders sichtbarer Teil von ihnen. Seit 2020 wurden mindestens 1 325 Frauen aus politischen Motiven verurteilt, von denen sich 179 derzeit in Haft befinden und 435 den Status ehemaliger politischer Gefangener haben.
Vereinigtes Frauenteam
Die Flötistin, Kulturmanagerin und politische Aktivistin Maria Kalesnikava ist in vielerlei Hinsicht das Gesicht sowohl der belarussischen politischen Gefangenen als auch der Proteste in Belarus von 2020. Maria Kalesnikava war schon vor den Wahlen am 9. August 2020 eine Inspiration für öffentlichen Aktivismus: Zunächst leitete sie die Wahlkampfzentrale des populärsten Präsidentschaftskandidaten bei den bevorstehenden Wahlen, Viktar Babarika, der 400 000 Unterschriften zu seiner Unterstützung sammeln konnte.
Nach der Verhaftung von Viktar Babarika im Juli 2020 unterstützte Maria Kalesnikava die Präsidentschaftskandidatin Svjatlana Tsichanouskaja. Diese hatte sich nach der Verhaftung ihres Mannes Sjarhej Tsichanouski, einem ebenfalls populären Präsidentschaftskandidaten, im Sommer 2020 für eine Kandidatur entschieden. Svjatlana Tsichanouskaja, Maria Kalesnikava und Veranika Tsepkala, – die Managerin, die davor das Wahlkampfteam des dritten prominenten Präsidentschaftskandidaten und ihres Mannes Valerij Tsepkala leitete – bildeten ein „Vereinigtes Frauenteam“, das die Unterstützung von landesweit hunderttausenden Belaruss_innen hinter sich versammeln konnte
„Wir müssen rütteln, rütteln, rütteln“
Maria Kalesnikava bezeichnet sich selbst als Feministin und hat sich wiederholt für die Anliegen von Frauen eingesetzt. Ihre Worte „Wir Belaruss_[inn]en sind unglaublich“ und „Wir müssen rütteln, rütteln, rütteln“ [dieses Regime, bis es fällt] wurden zum Motto der Proteste und bestärkten die Menschen darin, auf die Straße zu gehen, sich zusammenzutun und ihre Ängste zu überwinden. Feministisches Bewusstsein für Gewalt in all ihren Formen, einschließlich der Gewalt gegen Frauen und LGBTIQ-Personen, war der wichtigste Impuls, die am stärksten gefährdeten Gruppen, wie ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung, in die Proteste einzubeziehen. Plakate, Slogans und Regenbogenfahnen machten dies sichtbar. Es waren jedoch sehr unterschiedliche Frauen beteiligt, die sich nicht alle als (Queer-)Feministinnen identifizierten. Allerdings sahen sich alle als Teil des allgemeinen Protests, was charakteristisch für antiautoritäre Proteste ist.
Antiautoritärer Protest
Die Proteste in Belarus können in einen größeren Kontext antiautoritärer Proteste der letzten 15 Jahre weltweit eingeordnet werden, beispielsweise mit den Protesten in Iran 2022. So stellte Asef Bayat, ein Soziologe, der zu den iranischen revolutionären Protesten forscht, fest, dass der Feminismus der iranischen Protestbewegung „nicht antagonistisch gegenüber Männern [ist]. Vielmehr schließt er auch die subalternen, gedemütigten und leidenden Männer ein. Dieser Feminismus beschränkt sich auch nicht auf [Themen wie] körperliche Selbstbestimmung oder den erzwungenen Hijab. Viele traditionell verschleierten Frauen identifizieren sich auch mit Jin Jiyan Azadi (Frauen Leben Freiheit). Vielmehr ist der Feminismus dieser Bewegung antisystemisch; er stellt die systemische Kontrolle des Alltags und der Frauen als deren Grundlage in Frage.“1 In Belarus war der antisystemische und feministische Charakter der Proteste dadurch ausgezeichnet, dass das Patriarchat als das wichtigste Element, das das gesamte autoritäre Machtsystem zusammenhält, betrachtet wurde. Das hat die Frauen motiviert, aktiv nach neuen Wegen des Protests und Widerstands zu suchen. Einerseits sollten dadurch Differenzen nicht ausgeblendet, andererseits die Verletzlichkeit jeder und jedes Einzelnen im Autoritarismus anerkannt werden. Dies ermöglicht es den belarussischen Frauen, sich mit jenen im Exil verbunden zu fühlen, da die Repression bis zu eine halbe Million Belaruss_innen dazu gezwungen hat, das Land zu verlassen. Außerdem suchen sie weiter nach neuen Wegen; sie scheuen sich nicht, über die Grenzen von Frauen- und (queer-)feministischen Gruppen hinaus Allianzen zu bilden.
Fürsorgliche Solidarität
Auf den Straßen belarussischer Städte fanden die weiblichen und/oder (queer-)feministischen Strategien im Jahr 2020 ihren Ausdruck in einer Vielzahl kollektiver Aktionen und Praktiken, von Solidaritätsketten über künstlerische Statements und zu Frauenmärschen bis bin zur Schwesterlichkeit in Gefängnissen. Frauen verhielten sich bei den Protestaktionen fürsorglich solidarisch, indem sie gegenseitig auf ihre Sicherheit achteten und den Zusammenhalt untereinander stärkten. Sie behielten einander und den Demonstrationszug im Auge und achteten darauf, dass niemand zurückblieb und ins Visier der Sicherheitskräfte geriet. Sie stellten sich auf der Fahrbahn auf, um den Verkehr zu stoppen, sie hielten sich an den Händen und warnten laut, wenn sie eine Gefahr herannahen sahen. Sie bildeten Solidaritätsgruppen, um für diejenigen einzutreten, die von der Polizei aus der Menge herausgerissen worden waren. Die fürsorgliche Solidarität der Frauen und/oder der Queer-Feminist_innen zeigte sich auch als gegenseitige – psychologische, rechtliche oder finanzielle – Hilfe und als aufmerksames Verhalten anderen gegenüber. Die emotionale Unterstützung und die warmherzigen, offenen und vertrauensvollen Beziehungen, die Intensivierung freundschaftlicher Kommunikation und die Kritik an hegemonialer Männlichkeit waren ein wichtiger Teil davon.
Fragiler Widerstand
Seit 2020 agieren belarussische Frauen in Gefängnissen, im belarussischen Untergrund und im Exil weiterhin fürsorglich und praktizieren, in den Worten der polnischen feministischen Forscherin Ewa Majewska, den „fragilen Widerstand“. Ewa Majewska kontrastiert ihn mit „der patriarchalischen, heroischen Vision von Handlungsfähigkeit, die immer noch weitgehend unsere politische Vorstellung und Theorie beherrscht“ 2.
„Fragiler Widerstand“ in den belarussischen Gefängnissen und Strafkolonien findet seinen Ausdruck in der Fürsorge unter Bedingungen, die sie kaum erlauben: in der gegenseitigen Unterstützung, die sich im Teilen von Verantwortlichkeiten, aber auch von Lebensmitteln, im Organisieren des Alltags im Gefängnis, im Entwickeln von Routinen oder dem Bewältigen der Zeit mit Hilfe von Kreativität, Achtsamkeit und Fürsorge für sich selbst und füreinander verkörpert. Frauen, die aus Gefängnissen und Strafkolonien kommen, erzählen, wie sie sich gegenseitig weiterbilden, aber auch dabei helfen, rechtliche Wege einzuschlagen und Beschwerden zu schreiben, und versuchen, politische Gefangene und ihre Familien zu unterstützen. Maria Kalesnikava, zu der es seit über 560 Tagen keinen Kontakt mehr gibt, wurde Ende 2023 in einer Strafkolonie operiert und wird weiterhin gefoltert. Der transnationale Kampf für die Freilassung von Maria Kalesnikava und anderen belarussischen politischen Gefangenen ist heute notwendiger denn je. Er erinnert an jene autoritären Kontexte, in denen sich der Kampf für die Demokratie als eine äußerst traumatische, ja sogar tödliche Erfahrung erweist. Andererseits gibt es Hoffnung, dass die Macht des „fragilen“ kollektiven und fürsorglichen Widerstands, z. B. in Form von Petitionen und Briefaktionen, doch Wirkung zeigen kann und zu weiteren Formen der Solidarität führt.
Anmerkungen: 1 Asef Bayat. Is Iran on the Verge of Another Revolution? In: Journal of Democracy. April 2023. Vol. 34, Isuues 2, pp. 13-31 // 2 Ewa Majewska. Feminist Antifascism: Counterpublics of the Common, Verso 2021. S. 242 (eBook).
Zur Autorin: Olga Shparaga ist belarussische Philosophin im Exil und lebt in Wien. Sie ist auch politische Aktivistin und gilt als Vordenkerin der Massenproteste in Belarus im Spätsommer 2020. Darüber handelt ihr drittes Buch „Die Revolution hat ein weibliches Gesicht. Der Fall Belarus“ (Suhrkamp 2021).