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Eine extreme Ausnahmesituation!

Kriege und Geschlechterrollen

Interview mit Saskia Stachowitsch

Können Kriege als Möglichkeit gesehen werden, Geschlechterrollen zu verändern? Die Kriegs- und Sicherheitsexpertin Saskia Stachowitsch hat mit Claudia Dal-Bianco über Krieg und Frieden hinsichtlich feministischer Perspektiven gesprochen.

Was hat Krieg mit Geschlechterrollen zu tun?

Saskia Stachowitsch (SaS): Krieg findet nicht in einem Vakuum statt, sondern auf der Basis bereits existierender Geschlechterverhältnisse. Wichtig ist zu betonen: Krieg ist eine extreme Ausnahmesituation, in der sich Geschlechterverhältnisse und Hierarchien verfestigen, aber auch aufbrechen und sich neu gestalten können.

Legt Krieg unterschiedliche Rollen für Geschlechter fest?

SaS: Historisch betrachtet treten Eigenschaften, die kulturell bedingt mit Männlichkeit verknüpft werden, in den Vordergrund: Kraft, Stärke, Resilienz, Rationalität. Komplementär dazu existieren traditionelle Weiblichkeitsbilder: das Erhaltende, Ernährende, Versorgende. Allerdings bin ich immer gespalten, diese Stereotype wiederzugeben, weil sie – wie wir es aktuell in der Ukraine sehen – nicht die einzigen Charakteristika sind. Wir sehen gerade beispielsweise auch kämpfende Frauen. Es gibt daher auch widersprüchliche Bilder.

Gibt es auch emanzipatorische Bilder, die im Krieg zu sehen sind?

SaS: Krieg ist prinzipiell problematisch, weil er hierarchisierend ist, weil er immer darauf aufbaut, dass es ein „wir“ und „die anderen“ gibt und dass es Gewalt gibt – also die Spielräume für Emanzipation sind begrenzt.

Sollten Frauen im gleichen Ausmaß dienen wie Männer? Was erhofft man/frau sich dadurch?

SaS: Was erhofft man sich davon, dass Männer dienen? Sind sie dazu am besten geeignet? Diese Art der Fragestellung öffnet den Blick für die Ansprüche, die an Frauen gestellt werden. Frauen sollten nicht in zentralen Institutionen teilnehmen dürfen, weil sie irgendetwas Besonderes, Besseres, Friedlicheres, Kompetenteres, Professionelleres einbringen. Ich bin für die Integration in Militärapparate als Frage von Rechten und Ansprüchen. Aber nicht unter dem Motto, dass dadurch etwas verbessert werden muss.

Frauen kämpfen und kämpften schon immer in Kriegen oder Konfliktsituationen. Warum werden und wurden sie aus der Kriegsgeschichte herausgeschrieben?

SaS: Militärgeschichte hat die Tendenz, auf formelle Aspekte von Kriegsführung zu schauen: große Schlachten, wichtige Heeresführer. Es hat viele Jahrzehnte gedauert, bis historisch und sozialwissenschaftlich jene Bereiche in den Blick kamen, wo Frauen hauptsächlich tätig waren, z. B. in der Versorgung. 

Am Anfang hast du erwähnt, dass durch Kriege Geschlechterverhältnisse aufbrechen können. Hast du dazu Beispiele?

SaS: Es gibt ein Aufbrechen, aber es gibt ganz oft nachher wieder ein Verschließen. Das war in Europa im Zweiten Weltkrieg zu beobachten. Viele Frauen arbeiteten, als die Männer in den Krieg zogen. In den 1950er und 1960er Jahren kam es aber zu einer extremen Retraditionalisierung. Aus dem Grund, weil man sowohl die psychische Verfasstheit der Kriegsheimkehrer und ihre als selbstverständlich empfundene Vormachtstellung in der Familie stützen wollte, aber auch die Arbeitsplätze für sie wieder frei machen wollte. Mit diesem Wissen können wir anders auf den Ukrainekrieg schauen und jetzt schon überlegen, was es bedeuten wird: Wo sind dann die Frauen, die als Heldinnen gefeiert wurden? Was passiert mit den kriegerischen Männlichkeiten, die man bestärkt und aufgebaut hat?

Warum ist der Fokus in Europa auf den Krieg in der Ukraine gerichtet? Warum nur dieser Krieg, wieso nicht andere?

SaS: Die Ukraine ist geographisch sehr nah, und ein anderer großer Player (Russland, Anm. d. Red.) ist hier auch im Spiel, der historisch und aktuell wenig Hehl daraus gemacht hat, dass hier expansionistische Ziele gehegt werden. Man kann sich fragen, warum die Aufmerksamkeit für diesen Krieg gesamtgesellschaftlich so groß ist. Da spielt eine Rolle die historische Erfahrung im Kalten Krieg, von verschiedenen Ländern, die sehr unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen hat; und auch das problematische Konzept von: Was ist Europa, wer sind wir, wer gehört zu uns? Hier wird die Ukraine in ein Narrativ eingebettet, das besagt: sie ist europäisch. Aber gleichzeitig – und das ist wichtig, wenn wir über koloniale Verhältnisse reden – wird eine sehr koloniale Haltung gegenüber der Ukraine eingenommen. Sind das wirklich Europäer_innen, oder sind sie erst auf dem Weg dorthin?

Der UN-Sicherheitsrat hat an sich die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit. Welche Rolle spielt er in der Realität?

SaS: Jetzt gerade sehen wir, dass er keine besondere Rolle spielt. Natürlich haben wir dann auch das Problem, dass es von vielen Seiten den Wunsch gab, Russland aus den internationalen Gremien und Organisationen auszuschließen – mit wirklich gutem Grund. Aber gleichzeitig erodiert dadurch die ganze Idee von diesen internationalen Organisationen als letzte Möglichkeit, sich noch auszutauschen. Aber in dem Fall sehen wir, dass wirklich die rohe Aggression am Ende des Tages durch solche Gremien nicht bearbeitet werden kann.

Gibt es feministischen Perspektiven, die sich im UN-Sicherheitsrat festgeschrieben haben?

SaS: Eine Reihe von Resolutionen in Bezug auf „Women, Peace and Security“ wurden durchgesetzt, z. B. UN-Peacekeeping Gruppen müssen geschlechtergerecht aufgestellt sein, damit sie geschlechtsspezifische Aspekte von Konflikten analysieren und bearbeiten können. Die Agenda hat vielleicht nicht die direkten Auswirkungen, die wir uns wünschen, aber sie ist extrem relevant, weil sie auf Nationalstaatsebene in den Institutionen jene Gruppen stärkt, die sich für Gleichstellungsfragen einsetzen. Es kann immer mehr gemacht werden, aber es ist ein enorm wichtiges institutionelles Tool, und daher ist es nicht zu unterschätzen.

Wo gibt es schon feministische Errungenschaften in Bezug auf Peacekeeping im Postkonflikt?

SaS: In der NATO gibt es beispielsweise die Funktion der Genderberater_innen, das ist neu, und bei aller Kritik muss man das besonders im NATO-Kontext positiv hervorheben. Aber gleichzeitig wissen wir, dass Peacekeeping Ungleichheiten und speziell geschlechtsspezifische Ungleichheiten fördern kann. Es gibt immer wieder Fälle, in denen Peacekeeping-Truppen sexuelle Gewalt verübt und Hierarchien befördert haben. Peacekeeping kann daher den Staat sicherer, aber gleichzeitig Frauen, die in einem Konfliktgebiet leben, unsicherer machen.

Gibt es irgendeine Vision von Ihnen, wo Sie sich wünschen würden, dass sich etwas verändert?

SaS: Geschlechterthemen sollen nicht als isolierter Bereich in eine Institution aufgenommen werden. Wie wir uns Europa und europäische Sicherheit vorstellen, hat Auswirkungen auf Geschlechterpolitik. Wir können nicht ein maskulinistisches Projekt fördern und uns auf der anderen Seite wundern, dass Gleichstellungsmaßnahmen nicht greifen. Wenn Europa so stark als Global Gender Actor auftritt, also als Akteur, der Gleichstellung und Emanzipation fördert, wie steht das im Verhältnis zum Selbstverständnis als Sicherheitsakteur? Kann die EU ein Global Gender Actor sein mit dem, was sie gerade im Sicherheitsbereich vorschlägt? Hat das, was die EU selbst tut, auch geschlechtsspezifische Auswirkungen? Wie kann man nicht nur auf die anderen schauen und nicht versuchen, sie möglichst unseren Vorstellungen von Gendergerechtigkeit anzupassen? Wie kann man auch selber reflektieren, was geschlechtsspezifische Auswirkungen von EU-Sicherheitspolitik sind?

Zur Interviewten: Dr.in Saskia Stachowitsch setzt sich in ihrer Forschung mit Geschlecht, Sicherheit und Militär, kritischer Sicherheits- und Militärforschung und feministischen und postkolonialen Theorien der Internationalen Beziehungen auseinander. Derzeit ist sie Senior Research Fellow an der Central European University (CEU).

Zur Interviewerin: Claudia Dal-Bianco ist Redakteurin der Zeitschrift frauen*solidarität sowie Radioredakteurin bei der Radioredaktionsgruppe Women on Air der Sendereihe Globale Dialoge auf Radio Orange 94.0.

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