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„Hallo, ich bin keine Frau“

Ein Artikel von:
María Galindo
Andreea Zelinka

Interview mit María Galindo

Hure, Lesbe, Feministin, Künstlerin, Autorin, Aktivistin – in Bolivien ist María Galindo im ganzen Land bekannt. Im Juni traf Andreea Zelinka die bolivianische Anarchafeministin und Mitbegründerin der Mujeres Creando im Rahmen der Wiener Festwochen.

Die indische Theoretikerin Gayatri Spivak hat 1988 in ihrem Buch „Kann die Subalterne sprechen?“1 die These aufgestellt, dass sie es nicht könne. Im Schauspielhaus Wien hast du eine andere Antwort gegeben.

Maria Galindo (MG): Ich habe nichts gegen Spivak, aber ich frage mich: Warum kann sie über die Subalterne sprechen? Denn die Sprachlosigkeit, die sie den Unterdrückten attestiert, ist eine Art der Vernichtung. Dadurch wird behauptet, sie hätten keine Macht. Aber das Problem ist nicht Sprachlosigkeit, sondern dass im System nicht zugehört wird. Auch nicht an der Universität. Das Problem hat also die Hegemonie –  sie kann nicht zuhören, nicht sehen, nicht spüren, nicht erfahren, nicht zu Fuß spazieren, nicht die Welt erleben. Wir sind in den Händen von Leuten, die nicht lebendig sind.

Ich verstehe ihre These, aber sie versteht die Welt nicht. Ich habe z. B. viel mit Frauen im Gefängnis gearbeitet. In Bolivien ist das Leben im Gefängnis sehr hart. Es gibt nur wenig Raum, nicht genug Wasser, viel Leiden. Aber jede Frau hatte eine sehr starke Art, ihre eigenen Geschichten und Angelegenheiten zu erklären, viel besser, als jede_r Soziolog_in es könnte.

Du setzt dich seit über 30 Jahren für feministische Anliegen in Bolivien ein. Welche Rolle spielt das Frausein in deinem Kampf?

MG: Ich bin die erste öffentliche Lesbe in Bolivien gewesen. Mir wurde ständig gesagt: du bist keine Frau. Deswegen stelle ich mich seit Jahren so vor: „Hallo, ich bin keine Frau.“ Die Polizei hat mich jahrelang bei meinen Performances, die auf den Straßen stattfinden, versucht zu entblößen, um zu zeigen, dass ich einen Penis habe. Also trug ich mehrere Anzüge übereinander, fünf oder sechs gleichzeitig, damit ich noch angezogen bin, wenn mir zwei oder drei ausgezogen werden. Einmal um drei Uhr morgens hat mich die Polizei mitgenommen. Auf der Polizeiwache haben sie mir die Anzüge ausgezogen, und zwei Polizistinnen haben ihre Finger in meine Vagina eingeführt, um zu prüfen, ob ich eine Frau bin. Das wurde ganz legal in Bolivien gemacht. Es ist ein Spiel nachzufragen: „Was hast du zwischen deinen Beinen?“ Diese Überprüfung deines Weib- oder Mannseins, ist staatliche Gewalt.

Wie sollen wir uns organisieren, um uns gegen Gewalt zu wehren?

MG: Ich organisiere mich nicht, um irgendwen auszuschließen. Denn das Erlebnis, nicht dabei sein zu dürfen, kennen wir alle – egal ob du weiß, nicht weiß, Frau, keine Frau, dick, dünn, groß, klein, Europäer_in bist. Werden wir eine Revolution starten, um diese Ausschlüsse zu wiederholen? Ich arbeite mit jede_r, die_der mitmachen will, und jede_r betrachtet sich selbst, wie sie_er will. Für mich ist es wichtig, Identität zu überwinden.

Anmerkung: 1 „Can the Subaltern Speak?“ von Gayatri C. Spivak ist ein Schlüsseltext der postkolonialen Theorie. Die Subalternen bezeichnet eine untergeordnete, gesellschaftlich marginalisierte Gruppe.

Zur Interviewten: María Galindo erhebt seit über 30 Jahren ihre Stimme gegen Folter und Gewalt und setzt sich mit ihrer radikalen künstlerischen Praxis für Depatriarchalisierung ein. Denn laut ihr ist Dekolonisieren nicht möglich, ohne sich vom Patriarchat zu befreien.

Zur Interviewerin: Andreea Zelinka ist Redakteurin der frauen*solidarität.