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Der „Gang zur Urne“

Ein Artikel von:
Claudia Hanslmeier

Als Kind der brasilianischen Diaspora ist er mehr als eine Bürger_innenpflicht

Das gelbe Trikot der brasilianischen Fußballmannschaft galt lange als Symbol des brasilianischen Nationalstolzes. Mit der Amtszeit des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro hat sich das geändert. Warum das Shirt mittlerweile für die Spaltung des Landes steht und wie sich das in der Diaspora widerspiegelt, dem ist Claudia Hanslmeier nachgegangen.

Ich sitze in einer Bar im Zentrum von Rio de Janeiro. Es ist Mitte September 2022 – Brasilien steckt mitten im Wahlkampf. Bunte Sticker, Flyer und Fahnen mit den Gesichtern von Politiker_innen zieren die belebten Straßenzüge. Der zu diesem Zeitpunkt amtierende Präsident Jair Bolsonaro aus der PL (Liberal Partei) tritt gegen den Sozialdemokraten Luiz Inácio Lula da Silva (PT) an.

Während ich in der tropischen Schwüle eine Guarana-Limo schlürfe, schlendert ein Obdachloser mit abgewetzter Kleidung durch die Straßen. Auf der Windschutzscheibe eines Autos entdeckt er ein Flugblatt mit Wahlwerbung des Staatschefs. Er nimmt es an sich, zerreißt es und ruft „Fora Bolsonaro!“. Auf Deutsch bedeutet der Ausruf so viel wie „Weg mit Bolsonaro!“. Im Wahlkampf der Linken ist er als Schlachtruf kaum zu überhören. Diese Anekdote wird mich noch lange beschäftigen. Sie steht sinnbildlich für die Realität von Tagelöhnern, die durch Bolsonaros Kürzungen der Sozialleistungen auf der Straße gelandet sind.

Im Exil wird über die Zukunft der Heimat entschieden

Die Stimme der Diaspora, die weltweit mehr als 650.000 Personen zählt, entscheidet in den Wahllokalen der brasilianischen Botschaften über die Zukunft der einstigen Militärdiktatur. Als Kind der Diaspora berührt mich die politische Situation Brasiliens tief. Denn auch als im Ausland lebende Staatsbürgerin bin ich, wie alle anderen Brasilianer_innen ab 18 Jahren, wahlpflichtig – auch ohne von der Politik direkt betroffen zu sein, im Gegensatz zu meiner Familie und meinen Freund_innen in Brasilien.

Mit Bolsonaros Regierung hat sich der Alltag im Land deutlich verändert: mit einer hohen Inflation, einem prekär subventionierten Gesundheits- und Bildungssystem sowie homophober, sexistischer und rassistischer Rhetorik, die stärker präsent war als je zuvor. Ein Grund mehr, warum der „Gang zur Urne“1 für mich mehr als eine Bürger_innenpflicht ist.

Wahltendenzen zeigen sich an den Balkonen und Fenstern

In Brasilien spaltete Bolsonaro, ein ehemaliger Ex-Offizier, mit seiner Politik die Massen. Die einen sehen in ihm einen Heilsbringer, der die Wirtschaft der südamerikanischen Nation stärkt. Die anderen betrachten ihn als einen rechtsextremen Hardliner, der die überwundene Militärdiktatur zurück möchte.

Während meines Urlaubs in Rio de Janeiro ist es nicht schwer, die politischen Lager zu erkennen. So etwa in den noblen Strandvierteln Leblon und Ipanema, die als Motiv zahlreicher Postkarten weltweit bekannt sind. Hier befinden sich an vielen großen Panoramafenstern und Balkonen unzählige Brasilienflaggen. Letztere haben sich in den letzten fünf Jahren als Sinnbild für den reaktionären Politiker etabliert.

Konträr dazu: die alternativen Viertel Laranjeiras und Lapa. Rote Flaggen mit Lulas Gesicht, Graffiti-Tags mit der Aufschrift „Fora Bolsonaro“ und laute Pro-Lula-Lieder dominieren hier das Stadtbild und die Soundkulisse.

Auch in der Diaspora scheiden sich die Geister

Diese Polarisierung zeigt sich nicht nur in der föderativen Republik. Auch die brasilianische Community in meinem weiteren Umfeld ist zweigeteilt. Aussagen wie: „Bolsonaro hasst Schwarze, Frauen und queere Menschen“, „Bolsonaro stößt die Rechte von Arbeiter_innen mit Füßen“ bis hin zu „Lula ist ein Dieb“, „Bolsonaro sorgt für Recht und Ordnung“ zeigen die zwei Lager deutlich auf. Man könnte meinen, dass vor allem Arbeiter_innen zu Lulas Anhänger_innen zählen. Doch die Antwort ist komplexer.

Bolsonaro: Messias oder Demagoge

Auch gut situierte Brasilianer_innen sehen in dem rechten Politiker einen Rückschritt für das Land. Die Errungenschaften der früheren sozialdemokratischen Regierungen, wie etwa die Förderung von Kultur, die freie Meinungsäußerung und die Subventionierung von Universitäten, wurden unter ihm massiv abgebaut – Gründe, weshalb einige von ihnen noch während seiner Amtsperiode Brasilien verließen. Andere hingegen, die den sozialen Aufstieg geschafft haben, meinen, der Rechtspopulist sei die einzig vernünftige Option für ihr Heimatland. Ihre Befürchtung: Mit Lula werde der BRICS-Staat2 zu einem „kommunistischen Venezuela“.

Die Stimmung am Wahltag erinnert an ein Fußballmatch

Die Stichwahl am 31.10.2022 sollte alles entscheiden: Mit einem hauchdünnen Vorsprung von nur 1,5 Prozent gewann Lula mit 50,9 Prozent die Stichwahl. Außerhalb von Brasilien erreichte der Sozialdemokrat in 82 Ländern eine deutliche Mehrheit. In der Botschaft in Wien waren es 71,48 Prozent. Das zeigte sich nicht nur in den Zahlen, sondern auch an der Stimmung vor Ort.

Anders als in österreichischen Wahllokalen tragen brasilianische Wähler_innen – wie bei einem Fußballmatch – die Farben ihrer politischen Partei. Dementsprechend formierten sich Lula-Fans mit roten T-Shirts, Schuhen oder Halstüchern. Die „Bolsonaristas“ hingegen zeigten sich mit gelben Brasilien-Fußballtrikots. Überraschenderweise waren Letztere im Jahr 2022 – anders als zur Wahl 2018 – wenig bis kaum in der Wiener Dependance vertreten.

Frenetischer Beifall über den Wahlsieg Lulas

Am Abend der Verkündung des Wahlergebnisses und in den darauffolgenden Tagen war mein Instagram-Feed ein rotes Cluster an Videos und Bildern, das den Sieg Lulas feierte. Memes und Lieder von der Community aus der Diaspora, ergänzt mit Videos von ekstatischen Wahlpartys, Jubelschreien und Hupkonzerten in den Stadtvierteln von Rio de Janeiro und São Paulo. Es schien wie eine kollektive Erleichterung nach vier Jahren unter homophoben und rassistischen Hasstiraden.

Das sahen Bolsonaros Sympathisant_innen anders. Am 08.01.2023 – kurz nach Lulas Angelobung am 01.01.2023 – stürmten und verwüsteten sie den Obersten Gerichtshof, das Parlamentsgebäude und den Präsidentenpalast.

Lulas Sieg ist ein milder Trost

Einige Monate nach dem Sieg des Sozialdemokraten werden die Zweifel an Lulas Politik wieder lauter. Die Arbeitslosigkeit steigt, und der Umweltschutz findet nur begrenzt statt. Es wäre naiv zu glauben, dass Lula es alleine schafft, die Probleme des Landes zu lösen. Die Gründe: Bolsonaro hat ein wirtschaftlich gebeuteltes Land hinterlassen. Zudem besteht die Mehrheit der Gouverneur_innen und Senator_innen aus Mitgliedern von Bolsonaros Partei. Sie bleiben als Hemmschuh für Lulas Agenda.

Dennoch sind erste positive Signale sichtbar. BIPOCS3, Queere und Frauen sitzen seit langem wieder im brasilianischen Kabinett. In der ersten Reihe: Sônia Guajajara. Als Ministerin für indigene Völker bestimmt erstmals eine indigene Frau über die Zukunft der Ureinwohner_innen Brasiliens. Mit Erfolg: Seit Februar sinkt die Zahl neuer Goldgräber im Gebiet der indigenen Yanomami. Diese haben sich durch die Unterstützung der letzten Regierung stark verbreitet.

Wie es in puncto soziale Gerechtigkeit, Wirtschaft und Bildung weitergeht, werden die nächsten Jahre zeigen. Als Teil der Diaspora verweilt mein Blick gespannt auf den Nachrichtenseiten der brasilianischen Presse.

Anmerkungen: 1 Sowohl in den brasilianischen Botschaften als auch in Brasilien wird mit Wahlcomputern gewählt. Diese sind ähnlich wie die Urne in einer Wahlkabine in Österreich . Im Portugiesischen spricht man trotz Computer von einer „Urne“. // 2 BRICS steht für Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Es ist ein Zusammenschluss von fünf sogenannten aufstrebenden Volkswirtschaften. // 3 BIPOC steht für Black, Indigenous, People of Colour.

Zur Autorin: Claudia Hanslmeier arbeitet als freie Texterin und Kulturschaffende an der Schnittstelle zwischen Kunst und Kommunikation. Sie pendelt zwischen Wien und dem bayerischen Voralpenland.

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