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Endlich zusammendenken!

Ein Artikel von:
Gaby Küppers

Was Handelsabkommen, Ernährung und Frauen miteinander zu tun haben

Die europäische Handelspolitik und Landwirtschaft wird von Entscheidungsträger_innen noch oft als geschlechtsneutral angesehen. Doch Monokulturen, Arbeitsbedingungen und politisches Engagement zeigen: das ist sie ganz und gar nicht.

Unter dem Titel „Ernährungssicherheit aus Sicht der Europäischen Union, Lateinamerika und der Karibik“ lag im März 2014 bei der Plenartagung der Europäisch-Lateinamerikanischen Parlamentarier_innenversammlung (Eurolat) in Athen ein Bericht zur Annahme vor. Gemeinsam erarbeitet hatten ihn ein Abgeordneter des Parlaments der Andengemeinschaft, Roberto Gómez Alcívar aus Ecuador, und Esther Herranz von der spanischen konservativen christdemokratischen Partido Popular.

Der Titelvorschlag „Ernährungsouveränität“ war schon im Vorfeld von der Versammlungskoordination abgewiesen worden. Unerwartet zog dann auch die konservative Europaabgeordnete (MEP) nach der Schlussabstimmung ihren Namen von dem Dokument zurück. Denn ihr Änderungsantrag, das Wort „Ernährungssicherheit“ durch „Ernährungssuffizienz“ zu ersetzen, war abgelehnt worden.Doch was ist an dem Begriff so brisant, dass man ihn nicht einmal erwähnen darf? Warum sollen Menschen nur genügend Nahrung haben, nicht aber über sie bestimmen dürfen? Suffizienz ja, Souveränität nein? Für die spanische MEP stand das europäische Agrarmodell auf dem Spiel, und damit die europäische Handelspolitik. Diese wird von den meisten Entscheidungsträger_innen immer noch als geschlechtsneutral verstanden. Doch das ist sie nicht.

Geschlechtsneutrales Agrarmodell?

Die europäischen Handelsabkommen fördern durch Zollsenkungen, Lizenzbestimmungen und Aushebelung nationaler Gesetze den Export europäischer Fertigprodukte in Länder des Südens sowie den Import unverarbeiteter und billiger Agrarprodukte aus diesen. Das führt u. a. zur Ausweitung von Monokulturen im globalen Süden – von Soja, bestimmt als Viehfutter für europäische Megaställe, bis hin zu Palmöl, das von Autotreibstoff bis zur Schokoladenherstellung Verwendung findet. Das hat sehr unterschiedliche geschlechtsspezifische Auswirkungen. Monokulturen zeigen das sehr klar. Sie brauchen riesige Anbauflächen, Menschen jenseits der Städte verlieren ihre bisherigen Lebensgrundlagen, die kleinbäuerliche Landwirtschaft verschwindet. Männer werden Landarbeiter, die wenig, aber immer noch mehr verdienen als Landarbeiterinnen. Frauen sind als Bäuerinnen, Marktfrauen und Konsumentinnen betroffen. Hausäcker für den Subsistenzanbau verkümmern, denn Agrargifte in der benachbarten Agroindustrie reichen weit. Das früher auf dem Markt verdiente Geld fehlt im Haushalt. Lebensmittel müssen gekauft werden. Das ist teurer als Gemüse aus dem Garten. Physische, häufig sexualisierte Gewalt bei Vertreibung, aber auch durch frustrierte Ehe- oder Lebenspartner, kommt hinzu.

Ananas – außen giftig, innen lecker

Vor einem Jahrzehnt schon reisten Arbeiter_innen aus der zentralamerikanischen Agroindustrie zur Europäischen Kommission nach Brüssel. Dort beschwerten sie sich über Hautverätzungen und Atemwegserkrankungen, die durch Pestizide europäischer Hersteller auf für den Export angebaute Ananas verursacht waren. Hintergrund: Seit 2012/2013 ist ein Assoziationsabkommen zwischen der EU und Zentralamerika in Kraft, das auch phytosanitäre Bestimmungen beinhaltet. Hinter dem Begriff verbirgt sich der Schutz von Konsument_innen – allerdings nur von europäischen: Wäre das Fruchtfleisch der Ananas gesundheitsgefährdend, würde deren Export aus Costa Rica untersagt. Dass Arbeiter_innen auf Ananasfeldern sich an der ungenießbaren Schale infizieren, bleibt deren Problem. Das sagte schon die EU-Botschaft vor Ort, und das bestätigten Beamt_innen der EU den ob der offensichtlichen Doppelmoral im Abkommenstext entsetzten Gewerkschafter_innen aus Zentralamerika erneut. Die Leerstelle in der Lieferkettenbegleitung können auch die von den Abkommen ins Leben gerufenen internen Beratungsgruppen DAG1, bestehend aus zivilgesellschaftlichen Mitgliedern, nicht schließen. Die DAGs erstellen zwar jährliche Berichte, doch die Nachhaltigkeitskapitel der europäischen Handelsabkommen sehen keine Sanktionen vor. Schäden können damit benannt, aber nicht verhindert werden, und Schadensersatz ist schon gar nicht vorgesehen.

Höchstes Gut Unternehmensgewinn

Gewinn wird indessen Unternehmen mit den modernisierten oder neuen Handelsabkommen der EU zugesichert. Vereinfachung und Schutz von Investitionen sind verstärkt zum Ziel dieser Abkommen geworden und kommen nur mehr explizit als ISDS (englische Abkürzung, deutsch: Investor-Staat-Streitschlichtung) in den Abkommenstexten vor. Damit können Investoren, sprich Unternehmen, gegen Staaten wegen entgangenen Gewinns klagen – etwa durch neue Umweltauflagen, neue Mindestlöhne oder Arbeitsschutzvorgaben. Das ist jetzt schon real aufgrund von bilateralen Investitionsabkommen (BITs), bereits in Kraft befindliche nationale Vorläufer vom künftigen ISDS. Allein gegen lateinamerikanische Staaten liegen derzeit 166 europäische Firmenklagen vor.

Zum Vergleich: Die ILO-Konvention 169, die die Konsultation indigener, kleinbäuerlicher Gemeinden bei Großprojekten vorsieht, oder das 2021 in Kraft getretene Abkommen von Escazú über Umweltrechte2 sucht man weiterhin vergeblich in Handelsverträgen. Auch ein europäisches Lieferkettengesetz wird es wohl kaum hineinschaffen.

Der doppelte Kampf

Trotzdem oder gerade deswegen wehren sich betroffene Menschen. Nicht zufällig sind es gerade Frauen, die sich im Kampf gegen Abholzung zur Schaffung von Monokulturen, gegen eine Flussumleitung zur Freilegung von Erzadern oder – jetzt ganz aktuell – gegen den Lithiumabbau engagieren. Selbst oft im privaten Umfeld von patriarchalen Verhältnissen unterdrückt, führen sie einen doppelten Kampf gegen Entwicklungen, die die Fundamente ihrer Lebensgrundlagen bedrohen. Der geht oft nicht gut aus. Die gegen den Staudammbau von Agua Zarca aktive Lenca-Indígena Bertha Cáceres wurde 2016 in ihrem Haus erschossen. Die Kiché-Indígena Lolita Chávez Ixcaquic musste aus Guatemala fliehen, weil die Holzwirtschaft ihr nach dem Leben trachtete. Auch im vielleicht jüngsten Konflikt, im argentinischen Bundestaat Jujuy, demonstrieren vielfach Frauen gegen die Kriminalisierung von Umweltprotesten und insbesondere den vorgesehenen Lithiumabbau, der die europäische Energiewende unterstützen soll, ihre Territorien aber verseucht und ihnen das Wasser entzieht. Dass Abkommen, insbesondere Handelsabkommen der EU, Gesetze und Wirtschaftsmodelle dem künftig Rechnung tragen müssen, versteht sich von selbst.

Anmerkungen:

1 Der Begriff wird im Fachjargon auf Englisch benutzt: Domestic Advisory Group, abgekürzt DAG.

2 Regionaler Vertrag über den Zugang zu Informationen, über die Beteiligung der Öffentlichkeit und über die juristische Prüfung in Umweltangelegenheiten in Lateinamerika und der Karibik, kurz Abkommen von Escazú (Acuerdo de Escazú).

Zur Autorin: Gaby Küppers, Dr. phil., promovierte Lateinamerikanistin. Von 1992 bis 2020 arbeitete sie als Fachreferentin für internationale Handelspolitik und für Lateinamerikapolitik bei der Grünen Fraktion im Europäischen Parlament in Brüssel. Seit 1985 ist sie Mitglied der Redaktion des Lateinamerikamagazins ila in Bonn. Sie lebt in Bonn und Pünderich/Mosel.