Artikelbild

Die Regierung der Bäuerinnen

Ein Artikel von:
Ingrid Paola Romero Niño

Ein Engagement für Ernährungssouveränität

In Barrancabermeja im Norden Kolumbiens haben sich rund hundert Bäuerinnen und Landarbeiterinnen zusammengetan, um für ihr Recht zu kämpfen, als Frauen selbstbestimmt ihr Land bearbeiten und sich ernähren zu dürfen.

Die Tatsache, dass Hunger vor allem weiblich ist, stellt eine Kriegshandlung gegen Frauen dar, insbesondere gegen jene, die unter kolonialer Herrschaft jahrhundertelang Ausbeutung und Unterordnung ihrer Körper und Territorien ertragen mussten. Angesichts dieser Situation der Gewalt und Ungleichheit erheben die Bäuerinnen von Barrancabermeja ihre Stimme und fordern sowohl Zugriff auf Land, Saatgut, Wasser, Wälder als auch die Macht, die es ihnen ermöglicht, sich in Würde selbst zu ernähren. Frauen in dieser Region zeichnen sich dadurch aus, dass sie inmitten des bewaffneten Konflikts in Kolumbien eine Führungsrolle übernommen haben und politische Prozesse zur sozialen Mobilisierung vorantreiben.

Der lange Weg zu mehr Autonomie

Seit vier Jahren baut eine Gruppe von etwa hundert Bäuerinnen eine Bewegung auf, um mehr Autonomie zu erlangen. Sie möchten über sich selbst entscheiden, ihre eigenen Lebensmittel anbauen, ihre Kultur, ihre Vielfalt und ihre Souveränität bewahren und sich so gegen Ungleichheit, Diskriminierung und patriarchalische Unterdrückung zur Wehr setzen. Vielfältige Probleme, wie der Zugang zu Anbauflächen, die Vergabe von Landtiteln, zu kleine Parzellen, Arbeitslosigkeit, informelle Arbeitsplätze im Zusammenhang mit Hausarbeit und unbezahlter Pflegearbeit sowie die Plünderung von natürlichen Ressourcen durch bewaffnete Gruppen haben die Gemeingüter, die die Grundlage für die Ernährung der Region bilden, beeinträchtigt. Die Möglichkeiten der gesellschaftlichen Partizipation für Landfrauen und Bäuerinnen sind minimal. Selbst der Frauenbeirat in Barrancabermeja repräsentiert nicht die Stimmen der Frauen aus dem ländlichen Raum, sondern eher städtische Anliegen.

Zwischen 2020 und 2023 fanden verschiedene Treffen statt, um Wissen und Erfahrungen auszutauschen. Unter Beteiligung von führenden bäuerlichen Aktivistinnen aus anderen lateinamerikanischen Ländern wurde über bäuerliche Identität und das Recht auf Nahrung diskutiert, der Tag der arbeitenden Bäuerin begangen und ein politischer Aktionsplan für Ernährungssouveränität ausgearbeitet. Das bewirkte, dass der Bürgermeister von Barrancabermeja die Situation der Bäuerinnen als gesellschaftlich relevantes Problem anerkannte. Zur Erstellung der politischen Agenda und zur Festlegung strategischer Interessen wurde zu jeder der sechs Gemeinden der Region – El Centro, Ciénaga del Opón, Meseta de San Rafael, El Llanito, San Rafael de Chucuri und La Fortuna – eine Erkundung des Körper-Territoriums1 durchgeführt. Das heißt, Körper wurden kartiert, indem die Frauen die Silhouette ihrer Körper zeichneten und die wichtigsten Teile ihres Landes (Flüsse, Wälder, Bergbauprojekte usw.) zuordneten, darunter auch die gefährlichsten und sichersten Gebiete. Daraus schlossen sie, wie die Beziehung zwischen dem von ihnen bewohnten Gebiet und der Stelle des Körpers, die negativ oder positiv betroffen ist, beschaffen war.

Dieser Prozess zeigte, was die Hauptprobleme sind: die Verseuchung der Sumpfgebiete durch Erdöl, der Abbau von Mineralien, die Umweltverschmutzung und die Abfallentsorgung, der schlechte Zustand der Straßen, kaputte Häuser, die Erosion der Flussufer Magdalena, Sogamoso und Chucurí durch den Hidrosogamoso-Staudamm, fehlende Landtitel für Frauen, Agrochemikalien, Arbeitslosigkeit, fehlende Bildung und Ausbildung auf dem Land, Unsicherheit, Diebstahl, Gewalt gegen Frauen, Zwangsumsiedlungen und fehlende Gewährleistung sexueller und reproduktiver Rechte.

Ein Pakt der Landfrauen

Auf der Grundlage der Hauptprobleme wurde der Pakt für Landarbeiterinnen und Bäuerinnen ins Leben gerufen. Er beinhaltet einen Aktionsplan und Lösungsvorschläge, die auch historische Ursachen für Ungleichheiten in Betracht ziehen. Der Pakt zielt darauf ab, Regierungen dazu zu bewegen, mit Landfrauen und Frauenorganisationen zusammenzuarbeiten. Er enthält elf aus der Perspektive der Bäuerinnen wichtige kollektive Vereinbarungen zur Gewährleistung ihrer Menschenrechte. Im Juli 2022 fand der erste Rat der Bäuerinnen statt, bei dem die Bedeutung der Bäuerinnen für die öffentliche Agenda  klar wurde. Bei diesem Treffen waren alle kommunalen Sekretär_innen und der Bürgermeister von Barrancabermeja anwesend. Der Weg zur Durchsetzbarkeit des Paktes wurde von einem Team des Bürgermeisteramtes begleitet. Erzählungen, möglichen Bedeutungsstreitigkeiten und roten Linien den Forderungen gegenüber der Verwaltung wurde genügend Platz eingeräumt. Das ging Hand in Hand mit der Bereitstellung von Mitteln für spezifische agrarökologische Projekte zur Nahrungsmittelproduktion, um die strategischen Schritte in jeder der Gemeinden im Hinblick auf die Ernährungssouveränität zu planen.

Herausforderungen, die bleiben

Der Kampf der Bäuerinnen ist eine langwierige Aufgabe. Denn das Patriarchat ist tief in der bäuerlichen Gesellschaft verwurzelt, und Bäuerinnen sind mit sexistischen Stereotypen konfrontiert, die ihre gesellschaftliche Teilhabe einschränken. Hier also einige Erkenntnisse, die die nächsten Schritte begleiten werden:

  • Frauen müssen sich organisieren und dauerhaft über ihre eigene programmatische Agenda nachdenken, nämlich: Was wollen wir für uns selbst?
  • Es braucht einen Rahmen jenseits des Staates für politische Vorstellungen von Bäuerinnen und Landarbeiterinnen, in dem gemeinsame Arbeitsmethoden auf der Grundlage ihres Wissens über die Komplexität ihrer Gebiete entwickelt werden können.
  • Bäuerinnen haben potenziell eine große politische Macht. Sie kann gestärkt werden, indem sie politische Forderungen nach der Anerkennung ihrer grundlegenden Rolle bei der Pflege der Natur und ihrer unbezahlten Sorgeearbeit formulieren.
  • Es braucht Bündnisse und politische Netzwerke, um politische Lobbyarbeit und Vertretung von Frauen bei Entscheidungsträger_innen zu leisten und ihre Rolle und ihr Wissen im Ernährungsprozess zu stärken. 
  • Der politische Wille der Regierung ist von grundlegender Bedeutung, um die Stimmen der Landfrauen zu stärken.

Anmerkung:

1 Körper-Territorium ist ein Konzept, das die Bedeutung des Körpers als erstes bewohntes Territorium und die Ausdehnung der Körperlichkeit auf das Territorium hervorhebt. Beispielsweise ist eine Fischerin ohne ihren Fluss oder eine Bäuerin ohne ihr Land nicht denkbar.

Zur Autorin: Ingrid Paola Romero Niño ist dekoloniale Feministin und Expertin für Frauen und Ernährungssouveränität in Bogotá, Kolumbien. Sie arbeitet als Leitende Koordinatorin bei FIAN Kolumbien.