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Nicht nur für Männer

Ein Artikel von:
Andreea Zelinka

Mit Woman At Point Zero wurde der gleichnamige Roman der ägyptischen Schriftstellerin Nawal El Saadawi als Oper adaptiert. Das Stück zeigt Frauen als unnachgiebige Akteurinnen ihrer eigenen Freiheit.

Ohne Kreativität, sagte einst Nawal El Saadawi, können wir nicht revoltieren. Für die ägyptische Sozialistin, Feministin und Psychiaterin begann die Revolte beim Schreiben. Bereits als junges Mädchen wollte sie den Namen ihrer Mutter, Zaynab, hinter ihren Vornamen setzen, statt den ihres ihr unbekannten Großvaters, und wurde dafür von ihrer Lehrerin gerügt. In diesem Text wollen wir ihren Wunsch respektieren.
Später schrieb Zaynab in ihren zahlreichen Büchern gegen eine patriarchale, rassistische Gesellschaft und ein militärisches, kapitalistisches System an. Und erzählte dabei von Frauen, die sich widersetzen. Eine dieser Geschichten ist der Roman Woman At Point Zero, den das LOD muziektheater als Oper auf die Bühne gebracht hat und die heuer im Rahmen der Wiener Festwochen zu sehen war.

Männliche Welt der Oper

Eine Frau sitzt auf einer leeren, verdunkelten Bühne. Das Scheinwerferlicht wirft sich nur auf sie, bringt ihre weiße Kleidung zum Leuchten. Sie heißt Fatma, singt auf Englisch: Folge den Anweisungen, folge den Anweisungen. Hinter ihr, im Schatten, steht Sama, fragt, ob sie nicht versucht habe, mit ihrem Mann zu reden. Reden?, erwidert Fatma. Er sprach nur mit seinen Fäusten, antwortet sie.
Fatma (Dima Orsho) erzählt aus ihrem Leben: von Gewalt, Enttäuschung und dem Moment, in dem sie den Anweisungen nicht mehr folgte und sie schließlich inhaftiert wurde. Die Filmemacherin Sama (Carla Nahadi Babelegoto) besucht die Insassin, möchte ihre Geschichte erzählen. Denn Fatma hat ihren Freier ermordet, und ihr droht lebenslange Haft. Auch die Komponistin Bushra El-Turk, die Librettistin Stacy Hardy und die Regisseurin Laila Soliman sind den Anweisungen eines von Männern dominierten Opernbetriebs nicht gefolgt. Denn sie haben eine zeitgenössische Romanadaption als Oper inszeniert, die Geschichten aus dem Leben von Frauen erzählt – eine Seltenheit. Die Künstlerinnen und ich, wir trafen uns in einem Zoom Call zwischen Abu Dhabi, London, Johannesburg und Wien.
„Teile der europäischen Opernszene sind sehr darauf bedacht, so viel gleichberechtigte Repräsentation zu haben wie möglich“, erklärte El-Turk im Gespräch. Allerdings gelte das oft nur auf dem Papier, da die meisten Stücke immer noch von Männern erarbeitet werden. „Im Bereich der klassischen Musik und Oper werden nur zwei bis fünf Prozent der Stücke von Frauen geschrieben. Das ist eine schockierend niedrige Zahl.“
Die Welt der Oper und des Musiktheaters ist eine männliche, in der es „die Leute irgendwie aufregend fanden, dass Frauen eine Oper über Frauen machen”, sagte Soliman. Noch dazu als Frauen aus der globalen Mehrheit1. Eine zeitgenössische Oper wie diese gilt dann schnell als ein Nischenprodukt. Das zeigen auch die Reaktionen. „Ich denke, einige der bissigsten Kommentare kamen von weißen Männern“, meint Hardy.

Eine Grenze überschritten

Woman At Point Zero erzählt eine wahre Geschichte aus Zaynabs psychiatrischer Praxis. „Ich schreibe Fiktion, um von der Wahrheit zu erzählen“ , schrieb sie in einem Essay. Und so verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Fiktion, ein Stilmittel, das auch in der Opernaufführung eine Rolle spielt. Soliman paart das auf Englisch gesungene Duett mit arabischen Tonaufnahmen von realen ägyptischen Gefängnisinsassinnen. Übergroße Videoprojektionen auf dem Bühnenhintergrund zeigen alltägliche Situationen von Araber_innen, stehen im ständigen Austausch mit den Darstellerinnen und durchdringen die Geschichten von Fatma und Sama. So erhält das Stück weit mehr als einen dokumentarischen Charakter. Hardy entwickelte in einem kollaborativen Prozess mit dem Team die Geschichte mit persönlichen Erlebnissen und Ideen weiter. Daraus ist eine dichte und schmerzhafte Erzählung entstanden, die den Roman aus den 1970er Jahren in die heutige Zeit herüberführt. Als Kind erlebt Fatma häusliche Gewalt, weibliche Genitalverstümmelung und muss hungern. Als die Eltern sterben, kommt sie zu ihrem Onkel nach Kairo, den sie liebt und der sie missbraucht. Mit fast 17 Jahren wird sie zwangsverheiratet, ihr Mann ist über 60 Jahre alt, kontrolliert und schlägt sie. Als sie zu ihrem Onkel flüchtet, schickt dieser sie zurück. Doch Fatma will sich nicht fügen, wird Sexarbeiterin, verdient ihr eigenes Geld und engagiert sich in der Gewerkschaftsbewegung. Sie fühlt sich emanzipiert, verliebt sich in einen Genossen, der vorgibt, kein Problem mit ihrer Arbeit zu haben. Doch nimmt er statt sie eine Bürgerliche zur Frau. Als eines Tages ein Freier, ein weiterer Mann, sie kontrollieren will, ist eine Grenze überschritten – sie ermordet ihn.

Kollektive Geschichten

Soliman inszenierte das Stück mit nur ein paar Sitzgelegenheiten auf der Bühne, einem Stativ mit Kamera und einer Schnur, die die Haftzelle symbolisieren soll. Der Fokus liegt auf den zwei Sängerinnen, die in ihren Arien Operngesang, Jazz und arabische Stile miteinander verbinden. Umringt werden sie vom ZAR Ensemble, das von Kanako Abe dirigiert wird. Die Musik des sechsköpfigen Ensembles zeichnet sich ebenfalls durch die Kombination westlicher und östlicher Instrumente aus. Das ergibt einen einzigartigen Sound.
Gleichzeitig agiert das Ensemble auch als Chor. Etwa wenn Fatma von ihrem Ehemann flüchtet und der Chor einstimmt oder wenn es bei ihrem Onkel heißt: Es ist die Pflicht jeder gottesfürchtigen Frau: Gehorsam. Gott besteht darauf. Eine individuelle Aussage wird so zu einer gesellschaftlichen Ansage. Hardy sieht das Stück als kollektive Geschichte. Tatsächlich gelingt es durch den durchgehend anwesenden Chor und die musikalische interkulturelle Begegnung, den persönlichen Erfahrungen von Fatma und Sama einen universalen Charakter zu verleihen.

Antagonist_innen

Man wird nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht, klingt die französische Philosophin Simone de Beauvoir in meinen Ohren. Doch wie kommt es dazu? Woman At Point Zero legt nahe, dass es die vielfachen Einschränkungen und Grausamkeiten der Männer sind, denen Frauen unterworfen werden, aber auch der mühsame Prozess, sich als Frau oder FLINTA aus dieser Unterdrückung zu befreien. Es war dezidiert nicht das Ziel der Künstlerinnen, Männer zum Feindbild zu erklären. Schließlich wiege etwa die Frauenfeindlichkeit im Iran auch schwer auf den männlichen Verwandten, wie im Falle des Kamantsche-Spielers im ZAR Ensemble. Im Stück selbst gibt es jedoch keine positiv besetzten Männerfiguren, die diesen Monolith männlicher Gewalt zum Bröckeln bringen würden. Frauen sind hier vom Gutdünken der Männer abhängig. Doch Fatma widersetzt sich. Sie hat zwar keine Macht über ihren Körper, aber über ihren Geist schon. Und auch wenn die äußeren Umstände es nicht zulassen, sie findet so Freiheit im Innern.

Ich bin frei

Die Befreiung aus dem Patriarchat, sie nimmt nicht immer offensichtliche Formen an. Fatma ist zwar in Haft, doch sie spürt weder Angst noch Reue. Sie würde es wieder tun, sie steht hinter ihrer Tat. Sama tut sich schwer damit, dass Fatma vor Gericht nicht gegen ihr Urteil vorgeht. Nie habe Sama jemanden kennengelernt, die so selbstbestimmt und kämpferisch sei wie Fatma. Doch deren Selbstbestimmtheit ist absolut: Ich bin im Gefängnis, aber ich bin frei. Die Spannung zwischen Gefangenschaft und Freiheit resoniert auch in der Partitur, insofern El-Turk die Musiker_innen improvisieren lässt.
Für Hardy zeugt Fatmas Haltung von großem Mut. Gerade weil sie sich für Freiheit entscheidet, auch wenn das paradoxerweise bedeutet, im Gefängnis zu sein: „Ich entscheide mich lieber für die Freiheit meines Geistes und die Freiheit, die zu sein, die ich sein möchte und an die ich glaube, und zu dem zu stehen, an das ich glaube, als Kompromisse einzugehen.“ Einen Kompromiss gibt es sowieso nicht, Fatmas Schuld steht fest, ruft doch der Chor: Guilty! Und doch weiß sie genau: Ich bin eine Mörderin, aber ich habe kein Verbrechen begangen. Sama drängt sie dazu, ihre befreundeten Menschenrechtsanwält_innen zu kontaktieren, doch Fatma lehnt ab. Wozu habe sie ihr dann zugehört, wirft ihr die Filmemacherin vor, wenn sie nicht in Berufung gehen möchte? Wenn du zugehört hättest, würdest du es verstehen, ist Fatmas Antwort.

Es braucht Mut

„Ich würde lieber das Leben verlieren als mich selbst. Ohne dieses Selbst kann es keine Kreativität geben“, schrieb Nawal Zaynab. Kompromisslos sie selbst zu sein, das zu tun, was ihr entspricht, auch entgegen moralischer Vorstellungen der Gesellschaft. Für Zaynab bedeutete das, trotz der Ablehnung der Männer in ihrem Leben gegenüber ihrer Schriftstellerei, trotz staatlicher Verfolgung und islamistischer Drohungen, weiterzuschreiben. Dissidente Kreativität war für sie eine Lebensweise, zu der es Mut bedarf. Denn ohne Mut, so Zaynab, kann es keinen sozialen Wandel geben. Das Stück ist kein Aufruf zu Mord. Fatma verkörpert nur die vehementeste Form der Unnachgiebigkeit. Sie zeigt uns, dass es Mut braucht, zu sich selbst zu stehen. Mut, die Angst vor Tabus abzulegen. Mut, sich gegen Autoritarismus, Gehorsam und Zwang aufzulehnen. Mut, Kritik an anderen, aber vor allem auch Selbstkritik zu üben. Und Mut, sich der Veränderung zu öffnen. Das gilt auch für die Oper. „Der Kanon der westlichen Oper ist außerordentlich sexistisch, von Männern dominiert, und Frauen werden darin in ganz bestimmte Rollen gesteckt”, erklärte Hardy. Um das zu ändern, brauche es neue Geschichten von und für Frauen. Mehr Frauen müssten engagiert werden. Um das zu ermöglichen, muss die Sorgearbeit, die Frauen oft privat leisten, mitgedacht werden. Eine neue Oper ist nicht nur für Männer, sie mutet dem Publikum auch Stücke zu, die nicht dem Kanon entsprechen. Und hat Vertrauen, dass die Menschen dafür bereit sind.

Anmerkung: 1 Der Begriff Global majority ermutigt nicht-weiße Menschen, sich als das zu begreifen, was sie sind: die globale Mehrheit.

Tipp: Im Herbst ist das Stück in Seoul, Südkorea, zu sehen. Die aktuellen Termine werden laufend auf https://planning.lod.be aktualisiert.

Zur Autorin: Andreea Zelinka ist Redakteurin bei der frauen*solidarität.

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