Ein lesbisch-feministisches Kollektiv, ein Zufluchtsort und ein Zuhause: Das Haus in der Straße Copiapó hatte viele Funktionen. Susana Peña-Castro erinnert sich an ihre Wohngemeinschaft in Santiago de Chile, zur Zeit der Diktatur Pinochets.
Es war 1986, als Lili und ich in diese Wohnung im ersten Stock eines alten Hauses zogen. Sie war so lang wie ein Zug: die Küche quasi als Lokomotive, danach wie Waggons die sechs Zimmer, eins nach dem anderen, und am Schluss das Bad. Das Haus befand sich in der Straße Copiapó, in einem alten Viertel der Stadt. Wir zogen also ein, mit unserem schmalen Bett, einer Truhe, einem Klapptisch und zwei Sesseln, und schmückten die Fenster mit bunten Mosaiken aus Seidenpapier, wie sich Lili erinnert. Außerdem fanden all die Materialien Platz, die sich seit 1983 angesammelt hatten, als drei Lesben – Lili, Cecilia Riquelme und die Autorin – das lesbisch-feministische Colectiva Ayuquelén1 gründeten. Von einem Fenster am Ende des Ganges aus bekamen wir mit, ob auf der Straße alles ruhig war oder ob wir uns weiter ins Innere zurückziehen sollten: Die Repressionen unter Pinochets Diktatur waren damals noch sehr brutal. Aus diesem Grund war es unsere Priorität, dass wir uns als Lesben umeinander kümmerten und dass es diese Räumlichkeiten gab, die im Notfall als Unterschlupf dienten: wenn zum Beispiel plötzlich eine Ausgangssperre verhängt wurde, wenn die Sitzungen zu lange dauerten oder wenn eine von uns die letzte Metro nicht mehr erreichte. Das Haus in der Calle Copiapó nahm so mit der Zeit eine Vielzahl von Funktionen an:
• Alle herhören, morgen gibt’s den Workshop zu Feminismus und Patriarchat! – Kollektiv Ayuquelén
• Lili, kannst du dir bitte diesen Knoten in meiner Brust anschauen? Der macht mir Sorgen! – Medizinische Beratung
• Verdammt, jetzt hab’ ich mich in eine andere verliebt, aber es fällt mir schwer, mich von Inés zu trennen – was soll ich denn tun? – Beziehungsberatung
• Su, Lili, können wir mit Mó und Fran kommen und El Cuerpo Lesbiano lesen? Wir haben Angst, das Buch in unseren Taschen mitzunehmen. – Bibliothek
• Ein Vater kommt und sagt: Meine Frau und ich machen uns Sorgen, dass Kika immer männlicher wird, könnt ihr bitte mit ihr reden? – Familienberatung
• Wer bringt die Abba-Kassette mit? Ich komme mit Santana und Maria Bethânia. – Disco
• Die Bullen!! – Zufluchtsort
Denn wenn die Polizei hinter den prostituierten Frauen her war, die auf der Straße standen, retteten sie sich vor einer Nacht voller Prügel und Vergewaltigungen durch die Uniformierten in unser Haus. Mit ihnen waren wir immer solidarisch und pflegten eine liebevolle Nähe, teilten Tee oder ein Glas Pisco mit ihnen, wenn die Nacht kalt war und die Straßen einsam.
Dieses alte Lehmziegelhaus hat Erdbeben der Stärke 8,8 überstanden – und birgt so viele Erlebnisse und Erfahrungen voller Widerstand, Aktivismus, Mut, Kunst, Spaß und Unterhaltung! Es war ein so schöner Ort, nach innen und nach außen, denn er war für alle da, eine Bleibe für Besucherinnen aus anderen Ländern genauso wie für Chileninnen, die in Zeiten des täglichen Terrors nur für kurz oder längerfristig ein Zuhause benötigten. Viele von ihnen sind heute noch Freundinnen, alle haben uns in jenen Zeiten Mut und Hoffnung gegeben und sind in unserer Erinnerung helle Punkte voller Zuneigung und Dankbarkeit.
Anmerkung: 1 In Mapudungún, der Sprache der Mapuche, bedeutet „ayuquelén“ „sich freuen“.
Zu den Autorinnen: Susana „Su“ Peña-Castro ist Künstlerin und Aktivistin und lebt seit Mitte der 1990er Jahre in Kopenhagen, Dänemark. Zum Text beigetragen hat auch Liliana „Lili“ Inostroza, sie ist Hebamme und lebt in Concepción, Chile.
Übersetzung aus dem Spanischen: Ulrike Lunacek und Andreea Zelinka