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„Sie reden nicht von Rechtsstaatlichkeit, sondern von Law and Order“

Wenn man die Grundrechte aushöhlt, dann beschädigt man auch die Demokratie, sagt Rechtsphilosophin Elisabeth Holzleithner. Mit Bernadette Schönangerer sprach sie über intersektionale Perspektiven auf das Recht und warum man für Begriffsverschiebungen besonders wachsam sein sollte.

Elisabeth Holzleithner (EH): Im Grunde gibt es zwei Stoßrichtungen in den Legal Gender Studies: Zunächst soll der Gleichheitssatz ernstgenommen werden, also dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind und es keine benachteiligenden Differenzierungen aufgrund des Geschlechts geben darf. Das verbindet sich mit einem emanzipatorischen Anspruch: Die Gleichheit muss immer mit der Freiheit zusammen gedacht werden. Jeder Mensch soll sich in bester Weise entfalten können, und dafür sollen möglichst gute rechtliche Bedingungen geschaffen werden.

Wo setzt eine feministische Rechtskritik in den Legal Gender Studies an?

Die Legal Gender Studies sind aus den feministischen Rechtswissenschaften hervorgegangen. Sie verstehen den Gender-Begriff weiter und beziehen auch Emanzipations- und Gleichheitsbewegungen von LGBTIQ-Personen mit ein. Parallel dazu entwickelte sich die intersektionale Betrachtung von Geschlecht, aufgrund der Erfahrungen, die vor allem von Schwarzen Feministinnen und Critical Race Theoretiker_innen eingebracht worden sind. Kimberlé Crenshaw hat den Begriff der Intersektionalität entwickelt, anhand von Fällen, bei denen das Gericht die Diskriminierung Schwarzer Frauen nicht erkennen konnte.

Worum ging es dabei?

EH: Das war ein klassischer Fall indirekter Diskriminierung in einem Verfahren gegen General Motors. In den 1970er Jahren hat General Motors eine große Kündigungswelle im Unternehmen durchgeführt, von der besonders Schwarze Frauen betroffen waren. Und zwar deshalb, weil sie die Regel hatten: Last Hired, First Fired.

General Motors hatte über Jahrzehnte überhaupt keine Schwarzen Frauen beschäftigt. Nun wurden sie als erste wieder gekündigt und haben wegen indirekter Diskriminierung geklagt. Der Richter hat argumentiert, er kann die Diskriminierung nicht sehen: Frauen als solche wurden nicht diskriminiert und auch nicht Afroamerikaner. Schwarze Frauen als eigene Kategorie anzuerkennen, die durch das Zusammenwirken von Diskriminierungsgründen entsteht, lehnte er entschieden ab. Die Legal Gender Studies zeigen auf, wie die Diskriminierungserfahrungen mehrfach benachteiligter Gruppen ausgeblendet werden. Dabei wird etwa auf das Ineinandergreifen von Dimensionen wie Geschlecht, Religion, ethnische Herkunft fokussiert.

Wir beschäftigen uns in dieser Ausgabe mit Rechtsstaatlichkeit und ihrem Verhältnis zur Demokratie. Ich frage einfach plakativ: Schützt das Recht die Demokratie?

EH: Das kommt darauf an. An sich ist es so, dass die Demokratie in der österreichischen Verfassung sehr solide verankert ist. Man kann sie nicht so einfach abschaffen. Die Demokratie lässt sich aber aushöhlen. Und wenn ich sage Demokratie, dann meine ich eine liberale, rechtsstaatliche Demokratie. Die große Frage ist ja, was heißt Demokratie überhaupt? Jemand wie Viktor Orbán meint z.B., diese ganzen Grundrechte, die brauchen wir überhaupt nicht. Es geht darum, dass der Wille des Volkes realisiert wird. Und der Wille des Volkes verkörpert sich in seiner Person und in seiner politischen Bewegung. Da braucht es solche lästigen Sachen wie Meinungsfreiheit und freie Medien angeblich nicht. Orbán nennt das eine illiberale Demokratie. Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller hält diesen Begriff für problematisch und spricht lieber von einer defekten Demokratie. Denn eine Demokratie lebt davon, dass sie grundrechtsfundiert ist, dass es Minderheitenschutz, Kommunikationsfreiheit usw. gibt. Wenn man die Grundrechte aushöhlt, dann beschädigt man auch die Demokratie.

In den Regierungsverhandlungen in Österreich forderte die ÖVP von der FPÖ Bekenntnisse zu Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten, während gleichzeitig Vorhaben am Tisch lagen, z.B. über „Notgesetze“ das Asylrecht auszuhebeln oder über Volksabstimmungen Gesetze am Parlament vorbei beschließen zu wollen. Wo sollte man da besonders wachsam sein?

EH: Es gibt auch von Seiten der FPÖ Bekenntnisse zu Grundrechten, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie. Aber diese Begriffe werden mit neuen Bedeutungen besetzt: Wir sind die wahren Demokraten, wir führen das aus, was das Volk wirklich will. Und ‚das Volk‘ bekommt in diesen ethno-nationalistischen und illiberalen Strömungen eine ganz andere Bedeutung. Das Volk, das sind die weißen, christlichen, heterosexuellen Österreicherinnen und Österreicher. Bei all diesen Begriffen wird die Bedeutung verschoben, so dass es zum Weltbild passt.

Man verschiebt die Bedeutung der Begriffe und damit auch, für wen grundlegende Rechte gelten sollen?

EH: Ja, richtig. Wenn zum Beispiel diskutiert wird, Sozialleistungen an Deutschkenntnisse zu knüpfen. Das ist ein Umbauprojekt, wo es darum geht, Ausschlüsse vorzunehmen und jenen Menschen Rechte zu entziehen, von denen man meint, dass sie nicht zum eigentlichen Volk gehören. Und zum Begriff der Rechtsstaatlichkeit: Sie bindet die Gesetzgebung an die Verfassung. Das heißt auch, die Gesetzgebung hat die Grundrechte zu achten. Die Illiberalen, die Ethnonationalisten, die Rechtsextremen, die reden nicht von Rechtsstaatlichkeit, sondern von Law and Order. Und Law and Order heißt in dieserSprachregelung immer: Wir verkörpern den Willen des Volkes. Und unsere Gegner haben die volle Wucht des Gesetzes zu erleiden. Das ist ein Kampfbegriff.

Welche Maßnahmen gibt es zum Beispiel auf EU-Ebene zum Schutz von Rechtsstaatlichkeit und wie wirksam sind diese?

EH: Es gibt in der EU den Rechtsstaatlichkeitsmechanismus, mit dem etwa Ungarn immer wieder Probleme hat, aber auch Polen unter der PiS-Regierung, mit dem Umbau des Justizsystems. Wenn man so völlig dreist zu erkennen gibt, dass man sich nicht um rechtsstaatliche Prinzipien schert, dann kann das bis zu einem Ausschlussverfahren gehen. Ein gelinderes Mittel ist das Einfrieren von Subventionen, was für Ungarn sehr unangenehm war. Das Problem ist, wenn man dann von einem Staat wie Ungarn die Zustimmung zu politischen Maßnahmen braucht, zum Beispiel für Sanktionen gegen Russland, dann kann man sich gezwungen sehen, Teile dieser Subventionen wieder freizugeben. Das ist immer eine Abwägungsfrage. Wenn immer mehr Staaten in der EU rechte, illiberale Regierungen haben, dann stellt sich freilich auch die Frage, was aus diesem Rechtsstaatsmechanismus wird.

Heuer ist das 30-jährige Jubiläum der Weltfrauenkonferenz in Peking 1995. Wie sehen Sie heute die Bedeutung der Aktionsplattform, dem Abschlussdokument der Konferenz?

EH: Das Dokument war extrem wichtig. Es hat damals einen Standard von Frauenrechten etabliert, der vorher nicht zu erreichen war und jetzt wohl auch nicht mehr zu erreichen wäre. Die Aktionsplattform hat der Bewegung für Frauenrechte als Menschenrechte einen richtigen Boost gegeben und war energetisierend für die Umsetzung der Frauenrechtskonvention CEDAW. In der österreichischen politischen Praxis sind allerdings Regelwerke wie z.B. die Europäische Menschenrechtskonvention viel relevanter. Wenn es die nicht gäbe und die Judikatur des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wären wir im Zusammenhang mit LGBTIQ-Rechten bei weitem nicht so weit, wie wir es heute sind.

Zur Interviewten: Elisabeth Holzleithner ist Professorin für Rechtsphilosophie und Legal Gender Studies an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien und Sprecherin der interdisziplinären Forschungsplattform GAIN – Gender: Amibivalent In_Visibilities.

Zur Interviewerin: Bernadette Schönangerer ist Redakteurin der frauen*solidarität.

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