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POSTKOLONIALES ABENTEUER

Ein Artikel von:
Lucia Fuchs

Freiwilligendienste im globalen Süden reproduzieren Privilegien

Ein Freiwilligendienst im globalen Süden ist für viele junge Menschen aus dem globalen Norden der perfekte Weg, um sich nach dem Schulabschluss eine Auszeit zu nehmen und einfach mal etwas ganz anderes zu erleben. Und alle profitieren davon, oder? Die kurze Antwort lautet: nein, zumindest nicht gleichermaßen. Denn die Vorstellung, sich dem vermeintlich ganz anderen auszusetzen, um sich selbst weiterzuentwickeln, reproduziert koloniale Stereotype und Privilegien.

„Lena aus Österreich engagiert sich für ein Jahr in Peru.“ Überschriften wie diese tauchen regelmäßig in Lokalzeitungen auf. Dadurch entstehen eindeutige Vorstellungen: Ein junger Mensch arbeitet in einem sozialen Projekt in einem sogenannten Entwicklungsland. Bilder von weißen Freiwilligen in einer Gruppe von Schwarzen oder Braunen Kindern. Abenteuer.Der Nachrichtenwert hält sich dabei in Grenzen, denn solche Freiwilligendienste sind weit verbreitet. Allein das deutsche Programm weltwärts hat seit seiner Gründung 2008 rund 42.000 junge Erwachsene entsandt.

Dass diese scheinbare Normalität auf historisch gewachsenen Privilegien aufbaut, zeigt die Gegenprobe: „Enrique aus Peru engagiert sich für ein Jahr in Österreich.“ Dieses Bild ist ein anderes: Möchte Enrique durch in Österreich erworbenes Wissen zur Entwicklung Perus beitragen? Oder will er versuchen, im Land zu bleiben? Dass er bei der Entwicklung Österreichs helfen könnte, kommt einem eher nicht in den Sinn. Die Wurzeln dieser Wahrnehmung liegen an Strukturen, die in der Kolonialzeit entstanden sind. In Freiwilligendiensten werden sie auf drei miteinander verwobenen Ebenen deutlich: dem Zugang, der Repräsentation und der individuellen Erfahrung.

Wer darf wohin?

Der Zugang zu Freiwilligendiensten hängt maßgeblich von der Staatsangehörigkeit und den finanziellen Mitteln ab. Beides hat mit der Kolonialgeschichte zu tun: Nicht nur flossen Ressourcen systematisch von den Kolonien nach Europa, es entstanden auch kapitalistische Strukturen, die heute noch dazu beitragen, dass Menschen im globalen Süden im Durchschnitt weniger Geld zur Verfügung haben.

Dazu kommt, dass das Migrationsregime, das durch Grenzen, Pässe und Gesetzgebung steuert, wer sich unter welchen Umständen wohin bewegen darf, durch rassistische und kapitalistische Interessen des globalen Nordens entstanden ist. Während also Freiwillige aus dem Norden unkompliziert in ein Land des Südens reisen können, ist die umgekehrte Richtung aufwendig und oft unmöglich.

Unterschiedliche Repräsentationen von Mobilität

Das hängt auch mit der Repräsentation dieser Mobilität zusammen. In der Kolonialzeit entstand eine Vorstellung der Welt, die den Projektionen und Bedürfnissen im Norden entspricht. So ist es nicht überraschend, dass diese Vorstellung positiv besetzte Rollen beinhaltet, die Menschen aus dem Norden, wenn sie in den Süden reisen,  in der Begegnung mit Menschen dort einnehmen können. Historisch waren das etwa Entdeckungsreisende, Abenteurer oder Missionare. Aktuell sind es Entwicklungshelfer_innen, Rucksackreisende oder eben Freiwillige. Diese Rollen stehen für Mobilität in die umgekehrte Richtung nicht zur Verfügung. Stattdessen dominieren negativ besetzte Stereotype wie die der Wirtschafts- oder Arbeitsmigrant_innen. Die offen rassistische Begründung für die Unterordnung des Südens ist nach dem Ende der Kolonialzeit dem Konzept von Entwicklung gewichen: der Idee, dass der Süden – nach den Regeln und mit der Hilfe des Nordens – irgendwann auch den dort herrschenden Zustand von Moderne erreichen könnte. Darauf beruhen auch die positiv besetzten Rollen der Menschen aus dem Norden: Es erscheint logisch, dass Helfende aus dem bereits „entwickelten“ Norden gebraucht und dankbar empfangen werden.

Freiwilligendienste greifen auf diese Repräsentationen zurück und verbinden sie mit den vorherigen kolonialen Diskursen von Entdeckung und Abenteuer. Die Folge ist ein Bild des globalen Südens als Raum, der anders ist und dadurch Freiwilligen aus dem Norden zur Verfügung steht, um etwas Sinnvolles zu tun und gleichzeitig ein lehrreiches Abenteuer zu erleben. Insbesondere die Lernerfahrung wird in staatlich geförderten Freiwilligenprogrammen hervorgehoben.

Koloniale Privilegien für Freiwillige aus dem Norden

Zugang und Repräsentation wirken sich auch auf die individuellen Erfahrungen aus. Freiwillige aus dem Norden, insbesondere wenn sie weiß sind, erwarten und erleben im Süden Privilegien: Sie nehmen an ihren Einsatzstellen höhere Positionen ein, als ihnen auf Basis ihrer Qualifikation im Herkunftsland zustünde, und erwarten, dass ihre Einschätzungen gewürdigt werden.

Sie erwarten zudem, dass die Menschen, denen sie im Rahmen ihres Freiwilligendienstes begegnen, besonderes Interesse an ihnen haben. Dazu kommen große Freiheiten: Alles ist etwas einfacher, als sie es vom Leben in ihrem Herkunftsland kennen. Sie müssen nicht so viel arbeiten. Sie haben im Verhältnis zum lokalen Preisniveau viel Geld. Sie bekommen Lob für das, was sie tun. Auch wenn das unterbewusst geschieht, ist es eine Erfahrung von einem kolonialen Privileg. Dieses Privileg zeigt sich in den Begegnungen: Wenn Freiwillige davon profitieren, dass ihr Wissen höher geschätzt wird, liegt das daran, dass das Wissen der Menschen aus dem Süden abgewertet wird. Wenn die Bedürfnisse der Freiwilligen besonders geschützt werden, dann geschieht das oft auf Kosten anderer.

Dieselben Strukturen, die den „Nordfreiwilligen“ das Leben leichter machen, machen es für die Menschen aus dem Süden schwerer. Dadurch werden „Südfreiwillige“ im Norden ebenso benachteiligt wie die Menschen, denen die „Nordfreiwilligen“ im Süden begegnen. So haben beispielsweise die „Südfreiwilligen“, die mit weltwärts nach Deutschland kommen, meist Studium oder Ausbildung absolviert, während die deutschen Freiwilligen direkt nach der Schule in den Süden geschickt werden. Dennoch nehmen letztere höhere Positionen ein.

Unsichtbarmachung von Privileg

Die Hierarchisierung von Bedürfnissen wird in Bezug auf Kinder, mit denen „Nordfreiwillige“ im Süden besonders häufig arbeiten, deutlich: Oft interessieren diese sich dafür, wie es den Freiwilligen möglich ist, von so weit her zu kommen und dann auch noch vor Ort zu reisen und teure elektronische Geräte zu besitzen. Den Freiwilligen wiederum ist es unangenehm, wenn ihr ökonomisches Privileg sichtbar gemacht wird.

Es steht also das Bedürfnis der Kinder, die beobachtete Ungleichheit zu verstehen, gegen das Bedürfnis der Freiwilligen, ihr Privileg nicht sichtbar zu machen. Das dominante Narrativ, das häufig sowohl von Freiwilligen selbst als auch von den Entsende- und Aufnahmeorganisationen vertreten wird, lautet: Freiwillige haben sich ihre Position durch harte Arbeit verdient. Als wären die sichtbaren Ungleichheiten auf individuell unterschiedliche Arbeitsmoral zurückzuführen.

Im Zentrum von Nord-Süd-Freiwilligendiensten stehen damit die sowieso schon privilegierten Freiwilligen. Ihre Transformation durch die Begegnung mit Differenz wird idealisiert, während die andere Seite, ohne die diese Transformation nicht möglich wäre, einen bloßen Hintergrund dafür darstellt.

Zur Autorin: Lucia Fuchs hat Politikwissenschaft und Lateinamerikanistik studiert. In ihrer Dissertation hat sie koloniale Kontinuitäten in Nord-Süd-Freiwilligendiensten untersucht. Sie schreibt, forscht und lehrt u. a. zu post- und dekolonialer Theorie, Entwicklungspolitik und Mobilität.

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