Warum sich Betreuer_innen organisieren und vor Gericht ziehen wollen
Etwa 60.000 migrantische Betreuer_innen pflegen und betreuen betagte und kranke Menschen rund um die Uhr in deren Zuhause. Die meisten Betreuungskräfte sind Frauen, die aus Rumänien, der Slowakei, Ungarn, Bulgarien, Kroatien oder Slowenien kommen. Sie arbeiten auf Basis eines freien Gewerbes, in einem System, das sie in sozial- und arbeitsrechtlicher Hinsicht benachteiligt.
Würde die Mobilität der Betreuer_innen ganz eingeschränkt werden, könnte das System der 24-Stunden-Betreuung gar nicht funktionieren. Das war vielleicht für viele Menschen bis zur Corona-Krise unvorstellbar, weil sie diese Art der Dienstleistung als Selbstverständlichkeit ansahen. Am Pflegearbeitsmarkt gebe es doch eine große Auswahl an Betreuer_innen, die auf diese Arbeit angewiesen sind, so die Annahme.
Niemand hätte für eine Sekunde auch nur an eine kurze Unterbrechung dieser 24-Stunden-Betreuung gedacht, geschweige denn, dass sie je zusammenbrechen könnte. Und wahrscheinlich auch nicht, dass die unzufriedenen Betreuer_innen sich während der Corona-Krise endlich zum ersten Mal im Rahmen von IG24, der Interessengemeinschaft der 24-Stunden-Betreuer_innen, offiziell organisieren würden.
Eine Branche zwingt zum Hinschauen
Es war also nicht möglich, die Branche einfach zu ignorieren. Einige Agenturbesitzer_innen, und zugleich Wirtschaftskammerfunktionär_innen, haben Lösungen gefunden, um ihre Klient_innen (Betreuungsfamilien) weiterhin mit Betreuer_innen per Charterflügen und Sonderzügen versorgen zu können. Der Staat hat neben Härtefallfonds den Bleib-da-Bonus geschaffen, um die aufgrund der Einreiseeinschränkungen entstandenen Engpässe zu verhindern und die Betreuer_innen finanziell zum möglichst langen Verbleib in den Betreuungsfamilien zu motivieren.
All das waren allerdings nur Ad-hoc-Lösungen. Sie haben nicht nur zu keinen nachhaltigen Verbesserungen der Arbeitsbedingungen beigetragen, sondern sogar zur Diskriminierung der Betreuer_innen geführt. Man denke an die Nichtanerkennung von nationalen Bankkonten der Betreuer_innen im Rahmen von Corona-Härtefallfonds und der Bleib-da-Boni oder die Abnahme der Reisepässe rumänischer Betreuer_innen nach Ankunft mit den Charterflügen.
Die Corona-Krise hat die Betreuer_innen maßgeblich herausgefordert. Viele hatten mit Überbelastung, Stress, Druck seitens der Agenturen und den Betreuungsfamilien sowie mit Burnout zu kämpfen. Viele erlitten aufgrund der Einkommensausfälle und des fehlenden Schutzes gegen die Arbeitslosigkeit auch gravierende existenzielle Probleme. Die Corona-Krise hat die systemische Benachteiligung und Ausbeutung der Betreuer_innen aber nur verschärft. Einige von ihnen haben daher die Eigeninitiative ergriffen und mithilfe von Aktivist_innen ihre eigene Interessengemeinschaft gegründet.
Strukturelle Benachteiligung
Die Corona-Krise bewegte die Betreuer_innen dazu, sich länderübergreifend zu vernetzen und zusammenzuarbeiten. Denn der wahre Auslöser ihrer Selbstorganisierung ist die sogenannte Scheinselbstständigkeit. Die Betreuer_innen sind zwar formal selbstständig, arbeiten jedoch in vollkommener Abhängigkeit von Betreuungsfamilien und Vermittlungsagenturen. In der Praxis müssen sie ihre Arbeitszeiten, ihren Arbeitsort und ihre Arbeitsabläufe den Bedürfnissen der zu betreuenden Person unterordnen.
Aber nicht nur das schränkt ihre unternehmerische Freiheit ein. Die Vermittlungsagenturen verhandeln die Honorare, gestalten die Werkverträge zwischen Betreuer_innen und betreuten Personen, regeln den Transport, überweisen die Sozialversicherungsbeiträge, verrechnen die Werklöhne der Betreuer_innen und nehmen daher direkt Einfluss auf ihre Arbeitsbedingungen.
Von Anfang bis Ende regeln die Agenturen das Betreuungsverhältnis zwischen „selbstständigen“ Betreuer_innen und Betreuungsfamilien und binden Betreuer_innen dabei nicht selten an sittenwidrige Bedingungen wie beispielsweise unverhältnismäßig hohe Konventionalstrafen für die Abwerbung der Familie, unzulässige Verschwiegenheitspflichten, etc. Ebenso verrechnen einige von ihnen für ihre Services unverhältnismäßig hohe Agenturgebühren.
Die Agenturen verhalten sich als Quasi-Arbeitgeber_innen – jedoch ohne jegliche entsprechende Verpflichtungen zu übernehmen. Das unternehmerische Risiko tragen allein die Betreuer_innen, denn bei Problemen positionieren sich viele Agenturen gerne als reine Vermittlungseinrichtungen. Der hohe Anteil der Agenturbesitzer_innen als Funktionär_innen in der Wirtschaftskammer ermöglicht ihnen zudem, politische Einflussnahme – etwas, das den Betreuer_innen im Vergleich (bisher) nicht möglich war.
Arbeiten ohne Schutz
Die Konsequenz: fehlender arbeitsrechtlicher Schutz und null soziale Absicherung. Für Betreuer_innen gilt kein Arbeitszeitgesetz, und sie sind auch nicht geschützt gegen übermäßige körperliche und psychische Belastung, sexuelle Belästigung, Gewalt und menschenunwürdige Haushaltsverhältnisse. Sie haben keinen Anspruch auf Krankengeld, Urlaubsgeld oder einen Mindestlohn.
Zudem droht vielen Betreuer_innen im Pensionsalter Armut. Aufgrund der 24-stündigen Rufbereitschaft und Bindung an eine betreute Person können sie verglichen mit anderen Unternehmer_innen ihren Kund_innenkreis nicht ausweiten, nicht unternehmerisch wachsen und somit auch künftig nicht größere Gewinne erzielen. Durch diese Einschränkung und das Lohndumping der Agenturen können die Betreuer_innen nur geringe Beiträge in ihre Pensionsversicherung einzahlen und haben nach 15 Jahren Berufstätigkeit Anspruch auf bloß ca. 120 Euro Pension. Auch in der Gegenwart bleibt den Betreuer_innen nach Abliefern der Sozialabgaben und Bezahlung der Agenturgebühren nicht viel Netto-Einkommen übrig.
Ermächtigung statt Entmündigung
IG24 unterstützt die Ermächtigung der Betreuer_innen und agiert in Bereichen, wo bis jetzt in der 24-Stunden-Betreuung Lücken gewesen sind: Beratung und Konfliktlösung, Öffentlichkeits-, Community- und Lobbyarbeit. Die Hauptforderung ist das Gewährleisten von sicheren und gerechten Arbeitsbedingungen durch eine staatlich unterstützte Anstellung der Betreuer_innen.Im Dezember 2021 hat die IG24 daher die Crowdfunding-Kampagne zum Gerichtsprozess gegen die Scheinselbstständigkeit „Die Betreuer_innen ziehen vor Gericht“ gestartet, die man mit einer Spende und dem Verbreiten der Kampagne unterstützen kann. Das Ziel ist es, das abhängige Dienstverhältnis zwischen Betreuer_in und Agentur gerichtlich anzuerkennen und politische Träger_innen zur Reform der 24-Stunden-Betreuung zu zwingen. Die Verbesserung der Arbeitssituation der Betreuer_innen ist unumgänglich!
Webtip: Mehr Informationen zur Kampagne auf: www.ig24.at.
Lesetipp: Durisova, S. (2017): Die Organisation der Ausbeutung. Soziale und arbeitsrechtliche Benachteiligung der Pflege- und Betreuungskräfte im Rahmen der 24-Stunden-Pflege, unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Vermittlungsagenturen. Abzurufen unter: https://unipub.uni-graz.at/obvugrhs/content/titleinfo/2287178
Zur Autorin: Simona Ďurišová ist Mitgründerin der IG24. Mit dem Thema der 24-Stunden-Betreuung hat sie sich im Rahmen ihrer Masterarbeit auseinandergesetzt. Sie ist in der Slowakei aufgewachsen und lebt seit zehn Jahren in Graz. Ihre Eltern waren als Betreuer_innen in Österreich tätig.